Ich möchte das Wesentliche in der Partitur verstehen und es in den Kontext des Umfelds setzen. Verdi kam es auf die Beziehungen der Menschen an, weil er glaubte, dass sich über diese Beziehungen alles regelt – was auch ich denke. Das Zentrum dieses Krimis ist ein Dreiecks-Konflikt. Wenn sowas fehlt, ist auch jeder Krimi uninteressant. Insofern ist das Umfeld mitentscheidend. Dessen Fragilität, dass alles auf der Kippe steht und keine Aussicht ist auf Ordnung, ist so genial umgesetzt in diesem „Maskenball“: in dem Versteckspiel hinter den Masken, mit den Mördern, die die Messer in der Tasche haben und hinter jeder Ecke stehen, mit der Aufhebung auch der Beziehungen der Figuren untereinander, dass Freundschaft so schnell aufgekündigt wird und umschlägt in blindwütigen, geradezu terroristischen Hass – das ist sehr besonders in solchen Umbruchszeiten. Die gebieren solch extreme Situationen. Wenn sowas in geordneten Verhältnissen geschieht, dann gibt es immer noch Wege, dass man miteinander spricht oder dass Mord und Totschlag abgebogen wird. Insofern spielt die Zeit der Revolutions-Umbrüche mit in das Wesen der Geschichte und der Menschen hinein.
Vom Theatralischen und von Shakespeare her, der für Verdi der große Inspirator war, hat ein Königsmord die größere Fallhöhe als wenn es um einen Gouverneur ginge. Insofern sind wir auf die ursprüngliche Fassung von Somma und Scribe rekurriert. Und dieser Königsmord erzählt ja auch den Untergang eines ganzen Zeitalters. Bei einem Gouverneursmord wäre das eine Stufe runterdividiert.
Der Raum ist angeregt von dem Ballhaus, in dem die Abgeordneten des Dritten Standes am 20.Juni 1789, dem Vorabend der Französischen Revolution, in ihrem berühmten Schwur gelobten, nicht zu weichen, bevor es eine demokratische Verfassung gebe. Hans Dieter Schaal ist mit seinem Bühnenbild von diesem realen Hintergrund ausgegangen. Und er hat davon abgeleitet eine Art Gefängnisraum, der natürlich ein fiktiver Raum ist, weil die Figuren dieser Epoche in einem Endpunkt gefangen sind. Der andere Aspekt ist das herannahende Maschinen-Zeitalter. Die Farbe des Raums ist von einer Kanone abgeleitet. Die Räume sind beweglich und werden nach Art einer Maschine verfahren.
Gustav war wohl ein früher Romantiker. Er tendiert zum Gefühlsleben der Romantik, die das Innere, die daraus entstehende Poesie, das Nächtliche, Hintergründige, das auch Abwegige sucht. Es muss ein ziemlich verrückter, aber auch hochbegabter und sensibler Mensch gewesen sein. Eine sicher außergewöhnliche Figur.
Der Ausgangspunkt ist schon, dass Gustav sich so unsterblich in die Amelia verliebt und große Gewissensbisse bekommt Renato gegenüber. Das zeigt, dass die Freundschaft ihm wirklich was wert war und er den Renato nicht verlieren wollte. Und insofern versagt er sich diese Liebe. Es ist ein Missverständnis, was Renato so extrem eifersüchtig macht. Und der Gesichtsverlust eines Mannes, der von ganz unten hochgekommen ist in diese adligen Kreise, so wie Othello, die sich nicht einordnen und sich nicht fangen können in ihrem Stolz, die psychische Situation eines solchen Mannes macht ihn anfällig.
Als Mätresse des Königs ist eine Frau hochgestellt. Sie kann viel materiellen Reichtum für ihre Familie anhäufen. Auf der anderen Seite ist sie genauso gefährdet wie der König. In diesem Fall ist Amelia einfach der Typ Frau, die Mutter – diese ganz in sich gekehrte Person, die für sich nichts in Anspruch nimmt. Sie weiß nur nicht, wie sie mit dieser Liebe umgehen soll. Sie versucht diese Liebe in sich zu töten. Sie ist eine typische Frauenfigur, die sich das Leben eigentlich versagt. Das zeigt das Masochistische in Frauen.
Sie ist mit dieser Musik eine Madonnenfigur. Sie nimmt sich nicht so wichtig wie die Männer, versucht ihre natürlichen Triebe zurückzudrängen, zu bannen. Es scheint ja auch mit ihrem Mann nicht mehr so richtig zu laufen. Sie haben ein Kind, aber die Ehe scheint nicht besonders glücklich. Und jetzt kann sie dies Licht dieser Liebe diesem Mann geben. Die Situation im Leben eines Menschen ist ja was ganz Besonderes, wenn man plötzlich im Zentrum steht und nicht mehr nur Begleitfigur eines anderen ist. Dafür leben die beiden – und dafür lohnt es sich letztlich auch zu sterben.
Ulrica ist die komplementäre Frauenfigur. Die eine hat das Wissen, aber versagt sich alles. Die andere hat das Spirituelle, Instinktive, lebt es aus und macht es zu ihrem Geschäft. Aber letztlich behält sie recht. Sie sieht voraus, was passiert. Es gibt solche Menschen, die dies feinstoffliche Durchdringen von Materie und des Logischen durchschauen und warnen. Ulrica ist eine Figur, die Gustavo warnt. Er schlägt aber auch diese Warnung in den Wind, genauso wie Renatos Warnungen, der ihm einredet, dass Verschwörer ihm auflauern, dass er eine Liste mit Namen hat. Er will es einfach nicht wissen. Vielleicht kann er auch nicht mehr. Er ist innerlich fertig mit der Monarchie und dem Regieren.
Sie war eine Stieftochter des Kochs, in der Küche des Königs zugange. Insofern hatte sie all die heißen Infos vom Personal.
Er ist eine Spielerfigur, eine von Verdi eingeführte Kunstfigur als Reverenz an die französische Grand Opéra. Er bewegt sich auf der heute sehr modernen Ebene der Spaß-Gesellschaft. Alles muss Spaß machen und einen aus dem Alltag raus liften. Nur das zählt.
Das ist alles sehr maskenhaft, ein sich wiederholender Ritus im Maskenball-Bild. Das hat sehr starke Züge von Totentanz und absterbender Gesellschaft.
Masken sind zunächst ein Mittel, sein wahres Gesicht, seine wahre Absicht zu verbergen. Sich in der Politik eine Maske aufsetzen, heißt sich immer ins rechte Licht zu rücken oder andere zu manipulieren. So entsteht eine Situation, die jedes Vertrauen aufhebt. Wenn das Vertrauen aufgehoben ist, gibt es keine echten Beziehungen mehr. Wenn es keine echten Beziehungen mehr gibt, gibt es Krieg.
Ich habe diese Symbolfiguren eingeführt, um eine starke bildnerische Umsetzung zu schaffen von dieser ur-theatermäßigen Situation: Ritter, Tod und Teufel. Sie leiten den Totentanz ein. Ein Mörder, ein Hund – es sind theatralische Figuren, die diesen Totentanzes akzentuieren sollen.
Das markiert den Zwiespalt von Gustavs Herrschaft: einerseits hat er den Adel beschnitten. Dem Horn hat er das ererbte Schloss genommen, dem Ribbing den Bruder getötet, der sich wohl bereichert hat an anderen oder sie auch tötete – genau wissen wir es nicht. Die Adligen haben ja geschaltet und gewaltet wie sie wollten, auch am Staatsschatz sich bedient. Das wollte Gustav in den Griff kriegen, hat den Adel beschnitten, hat Ribbings Bruder hinrichten lassen und Horn enterbt.
Das Feuer, das Briefeschreiben, die Masken haben wir durch das ganze Stück geführt als eine Entwicklung, die schon im Kein alles in sich birgt. Wenn der Morgen beginnt mit Kerzenanzünden am Anfang des Stücks und alle auf den König warten und nach 48 Stunden ist er tot – es ist der Countdown zum Ende. Insofern spielen alle Motive von Anfang an eine Rolle, weil es zeitlich so gedrängt ist und am Lebensende alle Fäden zusammenlaufen, die man irgendwann gesponnen hat.
Er wurde an den Pranger geschmiedet, die Hände wurden ihm abgehackt, sie haben ihn gevierteilt – aber er hat seine Mit-Verschworenen nicht verraten. Horn und Ribbing wurden viel später erwischt und sehr viel glimpflicher bestraft. Renato muss einsehen: er hat sinnlos gemeuchelt, er ist erledigt. Amelia hat den König geliebt, aber sich ihm nicht hingegeben. Ich zeige die Solisten in ihren End-Situationen: die Ulrica hoffend auf bessere Zeiten wie eine Melancholie dasitzend, Renato am Boden zerstört. Amelia versucht, den halbtoten König – er starb ja erst nach sieben Tagen – zu schützen, indem sie sich über ihn wirft und wie eine Mutter ihr Kind bewahren will. Oscar guckt ratlos. Alles ist am Ende zerstört.
Das sind immer wieder wir Menschen. Im Kleinen wie im Großen kommt’s darauf an, wie man selbst handelt und mit den Konflikten um einen herum umgeht, das ist die Verantwortung für den anderen und die Art der Beziehung, dass man Verbindungen zu anderen Menschen knüpft, die ein Zusammenleben ermöglichen, erleichtern, verschönen. Es ist wie bei einer Inszenierung: man kann ein Klima der Angst schaffen und man kann eines der Arbeit und des Kampfes kreieren, um ein bisschen Gold zu schürfen mit so einem Werk. Es hängt ganz stark davon ab, dass man tolerant sein, verzeihen, den anderen achten muss und die Liebesfähigkeit, die wir haben, positiv nutzt. Diese menschlichen Werte sind der Drehpunkt unseres Lebens.
Mein Credo ist immer, dass man es versuchen muss. Man muss dem vertrauen, wenn man ein Quäntchen findet, und dass dieser Kampf lohnt. Ich hoffe es…