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Zum 100.Geburtstag Paluccas

8.Jan.2002
Gedenkartikel und Berichte von der offiziellen Hommage

Gehetztes "herrliches Raubtier"

Teil des Erfolgs von Gret Palucca:
unzählige Gastspiele in kleineren Städten, abseits der Zentren

Sächsische Zeitung, Dresden, Dienstag, 8. Januar 2002

Am 8. Januar vor 100 Jahren wurde Margarethe Paluka geboren. Als Gret Palucca avancierte sie zu einer der ersten Tänzerinnen und Pädagoginnen Deutschlands. Ihre Schule feiert das Jubiläum Warten auf dem Bahnhof unter anderem mit einem Festprogramm, bei dem auch ihr rekonstruiertes Erfolgsstück Serenata aufgeführt wird. Über Serenata und die vielen, den Ruhm Paluccas begründenden Tourneen berichtet exklusiv Paluccas Biograf Ralf Stabel.

 "Leider sehe ich immer nur Hotel, Theater, Eisenbahn", klagt Palucca am 29. Oktober 1928 in Stettin. "Auch jetzt muss ich gleich zur Probe" - und weg ist sie. Tatsächlich befindet sich Palucca auf dem Höhepunkt ihres Ruhmes und damit gleichzeitig in einem ununterbrochenen Hetztempo von einer Stadt zur anderen. Aber genau darin bestand ja auch zum Teil ihr Erfolg: hypermobil und nahezu gleichzeitig überall zu sein. Bis zu 100 Abende gab sie jährlich bis zur totalen Mobilmachung 1944.

Von besonderer Bedeutung sind stets die Auftritte in Berlin, das damals das Tanz-Zentrum Deutschlands war. Hatte man in Berlin bestanden, so hatte man an den anderen Orten schon halb gewonnen. Doch ist Palucca nicht so leichtsinnig, die Premiere ihres jeweiligen Tanzprogramms in Berlin anzusetzen. Ein beredtes Beispiel dafür ist die Aufführungsgeschichte des Tanzes Serenata. Erstmals tanzt sie ihn am 3. Oktober 1932 im Stadttheater Görlitz. Bis 1941 bringt sie es mit ihm auf insgesamt 131 Tanzabende. Bevor sie Serenata am 8. November 1932 im Berliner Bach-Saal aufführt, konnte man die Choreografie nach Görlitz in Halberstadt, Glogau, Zittau, Bautzen, dann allerdings schon in Dresden, Budapest, Leipzig, Magdeburg, Nordhausen und Gotha sehen.

Betrachtet man die gesamte Tanzkarriere der Palucca statistisch, folgt erst auf Berlin ihre Wahlheimatstadt Dresden. Auf Platz drei dann Hamburg; Platz vier Leipzig, fünf Stuttgart. Den sechsten teilen sich Heide, München und Hannover, gefolgt von Düsseldorf. Königsberg und Stettin belegen Rang acht und Bielefeld, Kassel und Plauen den darauf folgenden. Göttingen und Würzburg sind auf zehn platziert.

Es scheint keine Stadt in Deutschland zu geben, in der Palucca nicht getanzt hat: In Dessau ist man sich am 30. April 1927 darüber einig, dass Paluccas Auftritt eines der stärksten künstlerischen Erlebnisse gewesen sei. Seit dem Mai 1927, als Palucca mit ihrer Gruppe im Mannheimer Nibelungen-Saal vor 5 000 Menschen tanzt, gilt sie dort als "Tanzwunder". Wenige Tage später bejubelt das Publikum im Plauener Stadttheater ihren "Tanz der Ekstase". Auch im Nordhäuser Stadttheater oder Hannoveranischen Schauspielhaus zwingt sie die Zuschauer in ihren Bann.

Palucca tourt durch Europa. So tritt sie in Basel, Bern, Budapest, Davos, Lodz, Luxemburg, Oslo, Paris, Wien, St. Gallen und Stockholm auf. Ihr erstes Auslandsgastspiel findet am 10. Januar 1928 im Zürcher Schauspielhaus statt. Dort nennt man ihren Auftritt einen "erfrischenden Abend". Im Warschauer Konservatorium erleben die Zuschauer am 8. Dezember 1928 "ein bezauberndes Geschöpf, ein herrliches junges Raubtier".

Einst hatte Palucca auf die Frage, ob der Beruf anstrengend sei, geantwortet: sicherlich, aber tauschen mochte sie trotzdem nicht, und wenn der Beruf dreimal so anstrengend sei wie andere; sie liebe ihn eben, denn sie lebe in ihm. Und auf die Frage, wie sie sich die Zukunft vorstelle, sagte sie: "Danach darf man mich nicht fragen, die Gegenwart beansprucht mich ganz. Nur so viel: Ich werde tanzen und arbeiten, solange ich die Kraft habe ... Das ist mein Trost, und deshalb ist mir vor der Zukunft nicht bange."

Das Ende der Tanzkarriere kommt unverhofft. Am 17. Februar 1950 wird Palucca bei einem Autounfall auf der nächtlichen Rückfahrt von den Städtischen Bühnen Brandenburg durch die Frontscheibe des Autos geschleudert. Sie muss sich mehrfach Operationen unterziehen. Der Arzt verbietet ihr das Auftreten und jegliche Tätigkeit - auch das Proben - auf der Bühne. Da ist sie 48 Jahre alt. Für Palucca beginnt ein zweites Leben - vorrangig in Dresden - als Pädagogin für den Neuen Künstlerischen Tanz.


Einzigartig und eigenwillig, intuitiv und widersprüchlich

Von Gabriele Gorgas, in: Dresdner Neueste Nachrichten, 8.Januar 2002

Erinnern ist eine komplizierte Angelegenheit. An wen erinnert man sich, und warum? Vor allem aber, wie erinnert man sich? Palucca ist noch nicht einmal neun Jahre tot, da ist ihr reales Bild schon wieder hinter allen möglichen Fantasiegestalten, fixierten Erscheinungen verschwunden. Jeder hat seine eigene Art, sich zu erinnern. Wie er sie gesehen hat, wie er sie sehen will. Es macht Mühe, Palucca noch hinter all den Fotografien, biografischen Recherchen, Geschichten, Legenden, gar Anfeindungen selbst zu entdecken. Auch Filmaufnahmen, so authentisch sie scheinen mögen, zeichnen zuweilen in der Auswahl ein trügerisches Bild.
PaluccaWie also formt sich in uns und im öffentlichen Bewusstsein die Sicht auf diese wunderbare Künstlerin? Die so menschlich wie groß war, vor allem aber, dem Tanz ergeben in unvergleichlicher Weise. Und wie konkret sind die Erinnerungen, beispielsweise an ihre letzten Lebensjahre? Als die kleine, schmale Frau, müde und abgekämpft, sich und ihre Schule, in der sie nur noch selten anzutreffen war, konfrontiert sah mit gesellschaftlichen Veränderungen. Die ihr auch Angst machten. Sie Furcht hatte vor endlosen Aufdringlichkeiten, wütend reagierte auf Verrat und verfälschende Hasstiraden. Zuletzt lebte sie völlig zurückgezogen in ihrem Haus in der Wiener Straße, nur noch im Kontakt zu wenigen Vertrauten. Am 22. März 1993 starb Gret Palucca im Alter von 91 Jahren in Dresden.

"Niemand weiß, wer Palucca war, ist oder sein wird." Diese Worte von Ruth Berghaus - sie war in den Nachkriegsjahren ihre Schülerin - wirken schon fast wie ein Orakel. Je tiefer sich Historiker in dieses Leben hineinbohren, je mehr jedermann über Palucca erfahren kann, desto offensichtlicher verlieren wir sie auch aus den Augen. Und vergessen über dokumentierten biografischen Details, über Enthüllungen ohne Ende zuweilen das, was sie wirklich ausgemacht hat. Es lässt sich immer beweisen, wann, wo und wie ein Mensch fehlte. Seine wahren Motivationen aber, seine Gedanken, Hoffnungen nimmt er mit ins Grab. Zumal, wenn von ihm dazu kaum Äußerungen überliefert sind.

Wie also soll man man Palucca gerecht werden im Nachdenken über ihre Kunst, ihre Persönlichkeit? Gültige Antworten lassen sich zum heutigen 100. Geburtstag ebensowenig geben wie wohl noch in fünfzig oder hundert Jahren. Das Wissen um Daten, Orte, Ereignisse garantiert nicht mal die halbe Wahrheit. Und die ganze dürfte ihr wahrscheinlich selbst nicht immer bewusst gewesen sein. Wer wollte schon allen Ernstes behaupten, er wisse alles über sich selbst.

Was Palucca immer Freude bereitete, war die Art ihrer Schüler, Mitarbeiter und wenigen Vertrauten, sie fantasievoll zu beschenken, mit ganz persönlichen Überraschungen. Weit mehr als die offiziellen Anerkennungen, die Ehrungen in Reih und Glied, schätzte sie die kleinen Beweise der Aufmerksamkeit, schöpferische Ideen, Verwandlungen. Die für sie gesungenen Lieder, gestaltete Bilder, Figuren oder Gedichte, und ganz besonders neue Tänze, das war ihr wahres Geburtstagsglück. So ist die Hommage an Palucca heute Abend im Schauspielhaus ein Gedenken ganz in ihrem Sinne. Zehn ehemalige Schüler - erfolgreich als Tänzer, Choreographen, Pädagogen - haben Kammertanzszenen erarbeitet mit Studentinnen, die derzeit an der Palucca Schule Dresden eine Tänzerausbildung absolvieren.

Verbunden mit der Hommage ist die Geburt des Palucca Tanz Studios, quasi zur selben Stunde, wenn die acht Studentinnen der Hochschulklasse 2 mit dem Programm für Palucca ihre Feuertaufe auf der Bühne zu bestehen haben. Keine Frage, dass sie den Schöpfern der choreographischen Miniaturen, sich selbst und ihren Lehrern sowie im gewissen Sinne natürlich auch Palucca alle Ehre machen wollen. Gearbeitet haben sie dafür in den zurückliegenden Monaten in beeindruckender Weise, diszipliniert und beseelt, und sie tanzen derart hingebungsvoll, dass es einem das Herz wärmt.

Mit dem in Dresden vorgestellten Abend wird das neu gegründete Palucca Tanz Studio, das unmittelbar zur Palucca Schule, der einzigen eigenständigen Tanzhochschule Deutschlands gehört, bereits am 10. Januar auf der Bauhausbühne in Dessau zu Gast sein, am 8. Februar im Rahmen der Tanzplattform Deutschland im neuen Saal der Leipziger Musikhochschule auftreten und am 1. Mai in Gera sowie im November in der Akademie der Künste zu Berlin gastieren.

Das experimentierfreudige, studiennahe Kammertanzensemble soll künftig, ähnlich wie das Ensemble an der Folkwang Schule, Studenten und Absolventen Gelegenheit geben, auf professionellem Niveau gemeinsam Projekte zu erarbeiten und öffentlich vorzustellen. Einbezogen werden ebenso Choreographiestudenten der Tanzhochschule, die ihre Diplominszenierung mit den Mitgliedern des Studios einstudieren und aufführen können. Gewiss wird auch in diesem Zusammenhang die Kooperation mit anderen künstlerischen Hochschulen Dresdens erneut und wieder mal erwogen.

Wie genau allerdings die Arbeit des Studios künftig aussehen, was möglich sein wird in Zeiten finanzieller Einschränkungen, darüber kann wohl erst später gründlich nachgedacht werden. Zunächst sind alle Kräfte konzentriert auf das naheliegende Ereignis; danach werden erstmal die Aufführungen in der Folgezeit eine Rolle spielen. Jedenfalls soll sich das Palucca Tanz Studio immer ein offenes Konzept bewahren, meint Hanne Wandtke, Professorin für Modernen Tanz an der Schule. Und verweist auf den Gewinn in vielerlei Hinsicht: mehr Bühnenerfahrung für die Tanzstudenten, intensives Arbeiten mit unterschiedlichen choreographischen Handschriften, ein Zuwachs an tänzerischer, choreographischer Präsenz... Auf alle Fälle eine alte, neubelebte schöpferische Idee, an der sich Palucca erfreuen könnte.


Als stünde Palucca noch immer hinter der Tür

100. Jubiläum der großen Tanzpädagogin in Dresden gefeiert

Von Eva Prase, OSTSEE-Zeitung Rostock

„Habt Ihr noch Kraft? Also nochmal das Ganze. Los!“ Moderne Musik ertönt. Die Klasse, bestehend aus zehn, zwölf Tänzerinnen, probt zum x-ten Mal jenes Stück, das heute im Dresdner Schauspielhaus gezeigt werden soll. Es wird aufgeführt zu Ehren der großen Palucca. Sie wäre heute 100 Jahre alt geworden. Nur wenige Minuten dauert der Tanz. Kurze Zeit, in der volle Konzentration gefragt ist. Man kann durch einen Fehler alles verderben - und eben nichts korrigieren. „Die Energie bei Euch lassen! Im Zentrum! Ja! Schön! Hinten die Diagonale halten. Gut so. Jetzt Tempo!“, kommandiert Ingrid Borchardt.

Palucca-Schueler tanzen auf Hiddensee vor dem Haus am Huegel„Palucca war strenger“, sagt sie. „Viel strenger.“ Die Mädchen lachen. Auch das kam bei Palucca eher selten vor. Ingrid Borchardt kann sich noch gut erinnern an jene große Künstlerin, die den modernen Ausdruckstanz in Deutschland zum Durchbruch brachte. Fordernd sei die Palucca gewesen, zäh und ausdauernd, konzentriert und präzise. Doch zugleich war ihr nie daran gelegen, „Kopien“ ihrer selbst herauszubilden. Ihr Konzept zielte darauf, bei ihren Schülern Kreativität und Eigenständigkeit zu wecken. Palucca? Ihre Kunst, der Tanz, ist etwas Flüchtiges, etwas, das nur für den Augenblick inszeniert ist. Was blieb von ihr? Schaut einer heute in der Schule am Basteiplatz in Dresden beim Training zu, erlebt er, worin das Verdienst der Palucca besteht. Ihre Art lebt in ihren Schülern fort, ihre Kunst wurde von ihnen verinnerlicht. „Es ist, als stehe sie hinter der Tür und komme jeden Augenblick herein“, beschreibt ein Mitarbeiter.

Palucca wurde als Margarethe Paluka 1902 in München geboren. Ihr Vater, ein Apotheker, stammt aus Konstatinopel, ihre Mutter ist jüdischer Abstammung. In jungen Jahren bekommt „Gretel“ Ballettunterricht an der Dresdner Oper. Doch viel lieber tanzt sie drauf los und spürt, dass sie dabei ihre Gedanken und Gefühle besser zum Ausdruck bringen kann.

Der Zufall will es, dass 1919 die damals schon bekannte Ausdruckstänzerin Mary Wigman in Dresden gastiert. Sie wird ihre Lehrerin, und von Wigman lernt sie auch, dass man einen Nimbus um die eigenen Person schaffen muss. Sie ändert 1921, noch nicht einmal 20-jährig, ihren Namen in Palucca und legt damit den Grundstein für ihr Image. In der Wigman-Gruppe wird sie nicht nur schnell zum Star, es gibt auch Dissonanzen. Die junge Tänzerin ist kein Typ, der sich unterordnet, kein Typ für die Gruppe. Sie startet schon bald eine Solokarriere. Tanz Palucca - nur mit zwei Worten lässt sie ihre Vorstellungen ankündigen. Spartanisch einfach wählt sie ihre Kostüme. Schnörkellos, doch zugleich kräftig und herb. Sie genießt Anerkennung von Bauhaus-Künstlern und bereichert auch deren Arbeit.

Bereits Ende der zwanziger Jahre kämpft sie darum, dass ihre Ausbildungsstätte in Dresden Hochschule wird. Vergebens. Der aufstrebende Nationalsozialismus und der von Palucca selbst später gern verschwiegene Auftritt während der Olympischen Spiele 1936 bringen der Tänzerin einen großen Popularitätsschub. Doch ihre Schule wird geschlossen, weil sie sich für jüdische Schülerinnen einsetzte. Sie gehört sie zu den wenigen Prominenten, die man ohne „Ariernachweis“ leben und eingeschränkt arbeiten ließ. Sie war frei und doch eine Gefangene der Nazis. Es folgt der Krieg, die Zerstörung Dresdens, schließlich die Nachkriegsjahre.

WindgegerbtNicht zufällig galt Paluccas Sehnsucht von jeher Inseln.  Ihr ganzes Leben spielte sich auf und zwischen Inseln ab. Auf solchen, die sie für sich gefunden hatte, wie Sylt und Hiddensee, und auf solchen, die sie für sich und ihre Kunst geschaffen hatte, wie ihre Schule in Dresden am Basteiplatz. Palucca wehrt sich nun, will, dass moderner Tanz und nicht russisches Ballett gelehrt werde. Sie droht mit Ausreise, droht 1959, nicht von Sylt zurückzukehren, wo sie gerade zum Sommeraufenthalt weilt. Sie erwirkt immer wieder Teilerfolge gegen staatliche Bevormundung. Weil man die Künstlerin im Lande halten wollte, hatte man sich beeilt, ihr 1959 den Nationalpreis zu verleihen. Von dem damit verbundenen Geld ließ sie sich ein kleines Häuschen in Vitte auf Hiddensee errichten. Palucca wird zum gern gesehenen Gast auf der Insel.

Dass ihre Schule Hochschulstatus bekommt - das war ihr großer Wunsch. Im Sommer 1993 ging er in Erfüllung. Die Palucca-Schule Dresden wurde die einzige Hochschule für Tanz in Deutschland. Doch Palucca erlebte das nicht mehr. Sie war im März 1993 gestorben. Ihre letzte Ruhestätte fand sie auf dem kleinen Friedhof von Kloster auf Hiddensee. „Palucca“ steht auf dem Stein, schlicht und schnörkellos. Eben so, wie sie war.


Heute wäre Gret Palucca 100 Jahre alt geworden

Erinnerungen an die legendäre Pädagogin

Von Bernd Hahlweg, Märkische Allgemeine, Potsdam

Für die Eleven war schon die erste Stunde mit ihr etwas ganz besonderes. Alle zappelten aufgeregt herum. Die Zehnjährigen warteten auf die Palucca, die sie nur vom Eignungstest vor einem halben Jahr her kannten. Ihre Eltern hatten gesagt, seid artig, eure Lehrerin ist weltberühmt. Und dann kam sie. Gertenschlanke Gestalt, sprechende Arme, glattes Haar, kühne Nase, neugierige, lächelnde Augen.

Zur allgemeinen Verblüffung sprach sie jeden mit seinem Namen an. Die Gesichter hatte sich Palucca auf ihrem Urlaubsort in Hiddensee von Fotos eingeprägt. Und für besonders gute Leistungen verschenkte sie Fantasien in Stein, die sie auf ihrer Ostseeinsel gesammelt hatte, wo sie bei zwölf Grad noch im Meer badete. Von Anfang an ging es um das Freilegen von Fantasien und eigene Empfindungen. An die Mädchen verteilte sie Gummis, damit die Haare nicht ins Gesicht fielen.

Alle tanzten ohne Schuhe, bei Palucca gab es keine "Spitze", keinen gleichförmigen Drill nach klassischem Formenkanon, die "Barfüßigen" lernten ihr Inneres künstlerisch auszuleben. Und welcher Junge etwa beim Hexentanz oder der fleißigen Gärtnerin laut prustete, den herrschte die Palucca nicht an, sondern meinte nur: "Lach dich erst mal aus!" Sie sagte nie "Kind", für sie waren alle kleine Persönlichkeiten.

Palucca erteilte keine Zensuren. Sie legte ihren Bewertungen die Selbsteinschätzung der Schüler zugrunde. Darum wurde sie öfters vom DDR-Volksbildungsministerium ermahnt, Noten zu verteilen, doch sie ließ sich in ihrer Pädagogik nicht beirren.
Hatte jemand Sorgen, bemerkte sie das sofort und sagte: "Bring mich mal nach Hause." Unterwegs ließ sich über alles sprechen, auch über Heimweh und Liebeskummer. Die Eleven nannten sie verehrend "die P". Keine deutsche Frau des Tanzes erreichte je ihre Berühmtheit und Beliebtheit. Wie keine andere hatte sie die Tänzerin und zugleich Pädagogin in sich vereint. Nicht weit von Paluccas Schule stand ihr Wohnhaus. Helle Wände, beige Vorhänge statt Gardinen, Geschirr ohne Dekor. Bücher bis an die Decke. Und sie selbst stets in schlichter Kleidung. Paluccas Einfachheit machte ihre Größe aus.

Geboren am 8. Januar 1902 in München. An der dortigen Ballettschule musste sie hören: "Du bist total unbegabt, hör auf!" Dabei war ihr nur das Korsett des festgelegten klassischen "Bewegungsapparates" zu eng. Ihr Credo: "Ich will nicht hübsch und lieblich tanzen." In Dresden brachte sie Mary Wigman zum modernen Ausdruckstanz. "Ich fühlte mich befreit und entdeckte mich neu." Längst hatte sie die Spitzenschuhe weggeworfen und nur noch barfuß getanzt. Seit Mitte der 20er Jahre bis 1950 - unterbrochen von der Nazizeit, da hatte sie Auftrittsverbot - gab sie in halb Europa tausende Solo-Abende. Unübertroffen waren ihre Sprünge, ihre tänzerische Beherrschung des Raumes.

Der avantgardistische Bauhaus-Künstler Wassily Kandinsky setzte sich auf einen Schemel an den Bühnenrand und zeichnete moderne Bewegungsstudien. Und László Moholy-Nagy schwärmte. "Sie ist für uns das neu gefundene Gesetz der Bewegung." Schon 1926 schrieben Kritiker: "Keine andere hat so sehr die Gabe und Gnade des Frohmachens nur aus der Bewegung heraus." - "Wenn man sie sieht, sagt man nicht: Wie herrlich ist die Palucca, sondern wie herrlich ist das Leben".

Beim Bombenangriff auf die Elbestadt verlor sie alles, was sie besaß und schlief im Liegestuhl. Gleich nach dem Krieg bekämpfte sie mit Tanz, der das Leben bejaht, die Apathie, die viele Deutsche erfasst hatte. In der Trümmerstadt suchte sie Schüler, das kulturelle Dresden hatte Hunger nach wahrer Kultur. Was sie selbst in ihrer Jugend gesucht hatte, ließ sie ihre neuen Eleven finden - eigenes Sichausdrücken, individuelle Kreativität. "Ihr müsst auch mit dem Kopf tanzen und manchmal mit den Beinen denken."

Ihre Improvisierlaune war grenzenlos und steckte alle an. Nicht selten kam sie mit einem Gemälde in den Übungsraum. Wie schwer ist es, ein mittelalterliches Markttreiben nach Bruegel tänzerisch auszumalen? Sie verteilte buntes Krepppapier. Schnell kostümierten sich damit die Barfüßigen. Die P ließ sich immer neue Ideen von den Schülern anbieten, forderte: "Kopiert nicht, findet Eigenes!" Sie verfolgte jede Bewegung, tanzte in jedem Schüler mit. So fing der Mittelaltermarkt zu leben an - wie das hemmungslos ausrief, anlockte, zankte, jubelte!

Palucca wollte immer das Höchste, was jeder geben kann, damit er wahr wird in der Kunst. Gerade die größeren Eleven forderte sie unerbittlich, formte nachdenkliche, sich einmischende Tänzer. Kein Wunder, dass ihre Absolventen an allen Theatern sehr gefragt waren. Viele wurden berühmt, wie Primaballerina Hannelore Bey. Bis 1991 war Professorin Gret Palucca Künstlerische Leiterin ihrer Schule am Dresdner Basteiplatz, wo sie ihrem Neuen Künstlerischen Tanz zur Weltgeltung verhalf, nicht zuletzt mit den ebenfalls enorm begehrten internationalen Sommerkursen. Am 22. März 1993 verstarb sie in Dresden.

Seit 1999 führt Rektor Enno Markwart im Geiste seiner Lehrerin die Palucca-Schule als einzige eigenständige Tanzhochschule Deutschlands. In den letzten Tagen herrschte dort Hochspannung. Zum 100. Jubiläum studierten viele Schüler und Absolventen ihre "Hommage à la Palucca" ein, um sie heute am Dresdener Schauspielhaus aufzuführen. Zum gleichen Anlass wird das Palucca Tanz Studio mit sieben Tänzerinnen gegründet. Für die P waren Tänze das schönste Geschenk.

Viele erinnern sich an ihre enorme Vitalität. Wie sie es selbst im hohen Alter noch vormachte: Tanzte derart im Raum, dass es schien, als käme jemand die Treppe herunter, obwohl der Saal völlig eben ist. Oder sie sprang durch die Diagonale und fiel dann aus Spaß leise in sich zusammen, so, als ob ein leichtes Tuch herabsinke.


Sie tanzte die Zuversicht: Gret Palucca zum hundertsten

Von Klaus Geitel, Berliner Morgenpost, 8.Jan. 2002

Sie tanzte wie der Frühlingswind über die frischen Matten des Freien Tanzes in Deutschland. Um sie und ihre Tänze war Freude, und man liebte Gret Palucca dafür. Früh schon war sie, die geborene Margarethe Paluka, zur Schule Mary Wigmans gestossen, war deren Schülerin geworden und hatte sich mit ihren hellen Tänzen deutlich von der Meisterin abgesetzt. Sie hatte sich auf durchaus eigene Weise die Podien Deutschlands erobert. Im künstlerischen Dreigestirn mit Wigman und Harald Kreutzberg war sie sozusagen das Strahlemädchen. Sie tanzte die Zuversicht.

Die konnte sie selbst aber am meisten gebrauchen. Denn die Zeit schien sich gegen sie, die «Halbjüdin», zu verchwören. Sie hatte noch bei der Eröffnung der Olympischen Spiele 1936 unter den Augen der Weltöffentlichkeit repräsentativ auf dem Rasen von Berlins Stadion getanzt. Sie hatte sich geschmeichelt gefühlt, beim anschließenden Festbankett Hitlers Tischdame gewesen zu sein. Jetzt aber überfiel man sie urplötzlich mit Auftrittsverboten, die es mit allen erdenklichen Mitteln zu unterlaufen galt. Auch darin erwies sich Palucca als Meisterin.

Im Besitz einer Sondergenehmigung setzte sie fast uneingeschränkt ihre Karriere fort. Sie deshalb nachträglich zu schmähen, wie es heute gelegentlich geschieht, bezeugt nur Unkenntnis der tagtäglich geforderten Überlebenskünste im Dritten Reich. Viele gingen zugrunde. Palucca, durchaus gefährdet, tanzte gewissermaßen über ihre Gräber dahin. Sie hielt durch. Selbst 1943 trat sie noch mehr als 70 Mal auf. Sie tanzte kreuz und quer durch die Lande, zur Musik von Corelli, Scarlatti, Pergolesi. Sie tanzte ausgiebig Schumann. Sie wählte sich die denkbar populärsten Melodien: eine Madame André Rieu sozusagen, die mit ihren Beinen zu musizieren verstand. Palucca überlebte. Es gelang der künstlerischen Liebedienerin, trotz ihrer ununterbrochenen tänzerischen Leistungen die Anerkennung als Opfer des Faschismus zu finden. Tatsächlich aber waren die Opfer ganz andere.

Genauso aber, wie es ihr gelungen war, die Nazis mit ihrer Kunst hinters Licht zu führen, so trieb sie es auch mit den künstlerischen Politruks der DDR. Ihre Schule in Dresden stand geradezu unter staatlichem Denkmalsschutz. Sie blühte auf, obwohl sie sich dem eher gehassten Ballett zu öffnen hatte. Palucca ließ auf ihre lang erprobte Art die neuen Machthaber zittern, die weltweit bekannte Künstlerin könnte republikflüchtig werden. Palucca war vielleicht so etwas wie eine tanzende Glücksspielerin mit sorgfältig gezinkten Karten. Aber sie spielte ein künstlerisch durchaus stichhaltiges Spiel.

Sie wurde einundneunzig Jahre alt. 1993 ist sie in Dresden friedlich und hochgeachtet gestorben. Auch sie erntete den Schmäh, der über Leni Riefenstahl herfiel und sich erst allmählich zu heben beginnt. «Tanz, Palucca» hatte sie sich gesagt. Das war ihre Devise. Sie hat sie unnachsichtig gegen sich und andere zeitlebens befolgt.


Das Ereignis war sie selbst

Gret Palucca hat mit Kompromissbereitschaft auf ihrem Idealismus beharrt

von Michaela Schlagenwerth, Berliner Zeitung, am 5.Jan. 2002

Ihr müsst eure Augen und Ohren offen halten. Ihr müsst euch verausgaben, damit ihr wisst, was in euch steckt, und am besten ist es, einfach drauflos zu tanzen: Das sind so typische, heute fast ein wenig altbacken nach Siebziger-Jahre-Pädagogik klingende Palucca-Losungen. Aber Gret Palucca hat dergleichen auch in den Fünfzigern, in kältesten Ulbricht-Zeiten, zu ihren Dresdener Schülern gesagt; sie hat es zuvor, bis zu der Schließung ihrer Schule im Jahr 1939, unter den Nazis gesagt; in den Zwanzigern schon und bis zu ihrem Lebensende im März 1993.

Ein pädagogisches Konzept oder gar ein Bewegungssystem hat Gret Palucca nicht hinterlassen: Sie selbst war das Konzept. Anderen zu den jeweils eigenen Bewegungen verhelfen, das war eine weitere ihrer typischen Losungen, und die galt auch für das Unterrichten selbst: Jeder muss seine eigene Weise des Unterrichtens finden. Es gibt kein System, das für mehr als eine Person gilt.

Gret Palucca war für eine kurze Zeitspanne, für die Jahre von 1928 bis 1933, die bedeutendste moderne Tänzerin neben Mary Wigman und Harald Kreutzberg. Aber während der Name Kreutzberg heute nur noch den Tanzexperten vertraut ist, während Wigman ihren begrenzten Ruhm der Entwicklung einer bahnbrechend neuen, modernen Tanzästhetik verdankte, und während es der ganzen Schar bekannter, einst gefeierter Ausdruckstänzer nach 1945 nicht mehr gelungen ist, auch nur einen Zipfel des einstigen Ruhms zurückzugewinnen, wurde Gret Palucca nach ’45 sozusagen von Jahr zu Jahr berühmter und mit zunehmendem Alter schließlich regelrecht zur Legende.

Sie war eine der bedeutenden Persönlichkeiten, die der kleinen DDR Glanz verliehen - auch international. Unbestritten war Gret Palucca eine große Tänzerin und eine große Pädagogin. Doch worin die ruhmreiche künstlerische Leistung bestanden haben soll, die eine solche Bedeutung begründet, weiß man trotzdem nicht so recht. Liest man die vor wenigen Wochen erschienene Palucca-Biografie des Leipziger Theaterwissenschaftlers Ralf Stabel, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das eigentliche Ereignis nicht ihre Kunst und nicht ihre Pädagogik, sondern Gret Palucca selbst gewesen ist.

Mit unnachahmlichem Eigensinn, mit List und natürlich auch einer gehörigen Portion Kompromissbereitschaft hat sich Palucca in den fünfziger und sechziger Jahren gegen alle Versuche, ihre Schule staatlich zu indoktrinieren, zur Wehr gesetzt - auch wenn ihr SED-Parteimitglieder als Direktoren vor die Nase gesetzt wurden und auch wenn das klassische Ballett ihr eigentliches Gebiet - den neuen künstlerischen Tanz - als Unterrichtsfach völlig an die Seite drängte. Die Siege, die Palucca über die Direktiven der Parteileitung errang, waren oft nicht mehr als Millimeterarbeit, aber dass sie es geschafft hat, sich zu behaupten; dass sie wie ein lebender Widerspruch zu dem, was die DDR an Ordnungsprinzipien verkörperte, ungebrochen ihren Nonkonformismus an einer staatlichen Schule nicht nur als Tanz-, sondern auch als Lebensprinzip unterrichtete - das hat sie am Ende so berühmt gemacht.

Natürlich war das auch ein Geschäft. In der DDR wollte man sie wegen des Ruhmes, den man selbst mitproduziert hat, unbedingt halten. Oft hat sie mit Weggang gedroht, und jedes Mal wurde sie ein bisschen besser bezahlt und ihre Schule ein wenig vergrößert. Ihre Biografie, ihre Erfolge bei den Nazis, die sie trotz ihres Status als "Halbjüdin I. Grades mütterlicherseits" nach ihrem Auftritt bei den Olympischen Spielen 1936 zur deutschesten aller deutschen Tänzerinnen kürten, wurden im gegenseitigen Einverständnis geschönt.

Auskunft über sich selbst hat Gret Palucca nie gegeben. Alle Versuche, mit ihr Gespräche über die Nazizeit oder auch die für sie sehr schwierigen fünfziger und sechziger Jahre zu führen, scheiterten. Gret Palucca war ein lebender Widerspruch. Einerseits waren Offenheit und Spontaneität ihre obersten Lebensmaximen. Gleichzeitig gilt, was ihre berühmteste Schülerin Ruth Berghaus einst über sie gesagt hat: "Niemand weiß, wer Palucca war, ist oder sein wird."

Am 8. Januar 1902 wurde Gret Palucca als Margarethe Paluka in München geboren. Mit 16 begann sie eine klassische Tanzausbildung, die sie aber bald schon wieder abbrach, um stattdessen bei Mary Wigman modernen Tanz zu studieren. Nach drei Jahren verließ sie die Wigmantruppe, im Jahr darauf reüssierte sie als Solotänzerin. Mit Unterstützung ihres wohlhabenden Mannes Friedrich Bienert stilisierte sie sich mit einigem Werbeaufwand zunächst einmal selbst zur großen Künstlerin. Dass es ohne Marketing nicht geht, hat sie von Anfang an gewusst. Sie hat immer auf ihren Idealismus beharrt und ist immer außerordentlich geschäftstüchtig gewesen. Am 22. März 1993 ist sie gestorben, am 1. April 1993 wurde sie auf Hiddensee begraben. Heute wäre sie hundert Jahre alt geworden.


Keine Erregung, sondern Erfüllung - die Geheimnisse der Gret Palucca

Jochen Schmidt zum 100.Geburtstag in der FAZ am 8.Januar 2001

...Mag sein, dass ... jene Aussage über die eigenen Anfänge, die Palucca 1927 in einem autobiografischen Text publizierte, Teil einer sorgsam gepflegten Legende ist: "Tanzen wollte ich schon immer, nur wusste ich nicht, wie. Als Kind, in Amerika, wollte ich Rollschuhläuferin werden, Ich übte auch in meiner schulfreien Zeit eifrig auf den Rollschuhbahnen, kam aber nur bis zum Walzer damit".

Die Familie, die 1908 in die Vereinigten Staaten gezogen war, blieb jedoch nur ein Jahr in Amerika; so konnte Gret Palucca, schon 16jährig, 1918 bei Heinrich Kröller in München mit dem Ballettstudium beginnen. Zwei Jahre später wurde sie eine der ersten Schülerinnen in der neu gegründeten Schule von Mary Wigman in Dresden und tanzte bald schon in deren Ensemble. Wegen einer Undiszipliniertheit auf offener Bühne wurde sie von Wigman gefeuert und begann fast augenblicklich eine Solokarriere. Schon ein Jahr später, nachdem sie sich selbständig gemacht hatte, 1925 eröffnete sie in Dresden eine eigene Schule, die in ihrer ersten Phase bis zur Schließung durch die Nazis 1939 bestand.

In jenen Jahren lag die Creme der künstlerischen Avantgarde der Zwanziger Jahre der brillanten jungen Tänzerin zu Füßen: die Architekten Walter Gropius und Mies van der Rohe, die Maler Schlemmer, Feininger, Dix und Jawlensky, der Fotograf Moholy-Nagy. Wassily Kandinsky rühmte Paluccas "Exaktheit" und Formgefühl, Paul Klee empfand sie als "wichtig" und bescheinigte ihren Arbeiten, dass in ihnen "alles allzu Individuelle, Zufällige überwunden und ins Typische gesteigert" sei, Georg Kolbe fand in ihren Tänzen "keine Erregung, sondern Erfüllung".

Im Gegensatz zu Mary Wigman, deren Tänze vor allem mit Arm- und Handbewegungen arbeiteten, betont Palucca vor allem Füße und Beine. Ihre Choreografien entwerfen geometrische Muster, setzen aber auch zunehmend akrobatische Mittel ein. So wird Palucca, neben Vera Skoronel und Harald Kreutzberg, zur virtuosesten unter den deutschen Ausdruckstänzern, elegant und beinahe schwerelos als Walzer- wie als Charleston-Tänzerin.

In der Nazizeit feierte man Palucca zunächst als "lebensbejahende Tänzerin". Für Goebbels' Propagandaministerium beteiligte sie sich an der Neuordnung der deutschen Tanzszene, enthielt sich aber in der Öffentlichkeit jeder politischen Aussage. Obwohl sie wegen ihrer Freundschaft zu vielen als "entartet" gebrandmarkten Künstlern und der Beschäftigung jüdischer Lehrer an ihrer Schule als "vorbelastet" galt, wurde sie 1936 zur Beteiligung an der Gestaltung des Festspiels "Olympische Jugend" eingeladen. Erst danach geriet sie in Schwierigkeiten. 1939 musste sie die Leitung ihrer Schule abgeben; doch erhielt sie, im Gegensatz zu Mary Wigman, kein Auftrittsverbot.

Früher als andere Kolleginnen (und aus eigenem Antrieb) hat Palucca mit dem Tanzen aufgehört; als 48jährige stand sie, 1950, zum letzten Mal auf der Bühne. Seitdem gab es Palucca nur noch als Schulleiterin und Pädagogin an ihrer eigenen Schule, die sie schon 1945 wieder eröffnet hatte und unter ihrem Namen weiterführen durfte, als die DDR-Führung das Institut 1949 verstaatlichte. Der ästhetischen Gleichschaltung durch die SED entkam sie nicht (ganz); auch an der Palucca Schule bildete man fürs klassische Ballett in seiner sowjetischen Spielart aus, das die DDR-Tanzkonferenz 1953 gleichsam zur ästhetischen "Staatsreligion" erklärt hatte. Doch gelang es Palucca, mit DDR-Nationalpreisen und Vaterländischen Verdienstorden hoch geehrt, etwas von jenem Geist der Freiheit, der den deutschen Ausdruckstanz in den 20iger Jahren beseelt hatte, in den Ausbildungsalltag der DDR hinüber zu retten: Wer bei Palucca studiert hatte, war für die engstirnige SED-Partei-Ästhetik verloren.

Golliwog's Cake Walk zu Musik von Debussy war das erste Stück, das Palucca (1922) choreografierte, ein Werk mit dem Titel Variationen zur Musik des Padre Martini beschließt (1950) ein Œuvre-Verzeichnis von rund 200 Titeln: meist kürzere Stücke, vereinzelt nur Zyklen darunter wie die Hellen Tänze (1930) mit Musik von Bach, die Händel-Suite von 1933 oder die Herbstgesänge zu Chopin-Etüden von 1940. Außer einigen auf Film konservierten Häppchen ist nichts davon für die Nachwelt erhalten geblieben. Von ihrer Meinung, dass die großen Werke des Ausdruckstanzes untrennbar mit den Persönlichkeiten ihrer Schöpfer verbunden seien und mit ihnen ins Grab sinken müssten, ist Palucca ... nie abzubringen gewesen.


Eine Kämpfernatur

Zum 100. Geburtstag von Gret Palucca von Ralf Stabel

Oper&Tanz 2002/02

„Unserer lieben Palucca, der großen Künstlerin, der großen Pädagogin, dem aufrechten und warmherzigen Menschen danken alle Mitarbeiter, weil sie lernten, wie man mutig arbeitet und lebt,” schrieben Mitarbeiter der Palucca Schule Dresden Ende der 50er Jahre in die von ihnen verfasste Chronik der Schule. Palucca, eine Kämpferin? Fraglos hat Palucca stets für ihre Kunst und ihre Schule gekämpft. Dass sie dadurch selbstverständlich auch für sich selbst gekämpft hat, wird ihr mitunter heute vorgeworfen. Doch, was meinten die Mitarbeiter damals konkret?

Im Jahr 1958 wurde Palucca in der DDR erstmalig für den Nationalpreis vorgeschlagen. Die entsprechende Kommission lehnte allerdings ab und vertagte das Problem auf 1962, um Palucca dann anlässlich ihres 60. Geburtstags für ihr Lebenswerk auszeichnen zu können. Palucca 1980 - stolz Als eine Art „Trostpflaster“ würde man ihr aber den Vaterländischen Verdienstorden zum Jahrestag der DDR 1958 im Schloss in Berlin-Niederschönhausen überreichen. Palucca fuhr hin, und stellte offensichtlich erst dort fest, dass sie den Ordnen nur in Bronze erhält. An der Veranstaltung nahm sie zwar diszipliniert teil, gab den Orden aber anschließend einfach zurück. Das war in der DDR ein bis dahin unerhörter Vorgang. An den Ministerpräsidenten Otto Grotewohl schrieb sie, dass sie in ihrer Tätigkeit durchaus nicht abhängig von Titeln und Auszeichnungen sei, und wenn sie einen Wunsch habe, so diesen, für ihre Tätigkeit eine günstige Basis zu haben. Wolle man ihr aber eine Auszeichnung geben, so müsse diese der Bedeutung ihrer Arbeit und ihrem internationalen Ruf entsprechen. In der Folge verhandelte man noch eine Weile hin und her. Palucca zeigte sich einsichtig, nahm die Zurückgabe zurück, hatte aber ihre Position deutlich gemacht.

Heute kaum mehr vorstellbar war diese inzwischen fast schon als Anekdote zu lesende Begebenheit damals ein wirklicher Akt von Zivilcourage. Seit der Gründung der DDR hatte man versucht, mit allen nur erdenklichen Privilegien Künstler und Wissenschaftler in die DDR zu holen und dort zu halten. Nicht anders verfuhr man mit Palucca. Auch sie ließ sich monatlich ein beträchtliches Einkommen überweisen, nutzte Auto mit Chauffeur und – was das eigentlich wichtige war – betrat jeden Morgen „ihre“ neugebaute Palucca-Schule am Dresdner Basteiplatz. Auch diese hatte sie zu Beginn der 50er Jahre in zähen Verhandlung bis hin zum ZK der SED der DDR abgetrotzt.

Früh selbständig

Wer nun glaubt, dass Palucca erst zu dieser Zeit und unter diesen Umständen zu kämpferischer Höchstform auflaufen musste, irrt. Die am 8. Januar 1902 als Margerethe Paluka in München Geborene musste früh lernen, was es heißt sich allein durchzuschlagen. Der Vater, Max Paluka, starb im ersten Weltkrieg als Soldat an der Ostfront, der um ein Jahr jüngere Bruder Hans kam als Jugendlicher bei einem vermeintlichen Unfall im Bad der elterlichen Wohnung ums Leben. Die Mutter Rosa starb bereits 1925. Zu dieser Zeit hatte Palucca, wie sie sich ab 1921 nennen wird, schon eine ereignisreiche Kindheit und Jugend hinter sich. In München, San Francisco, Plauen im Vogtland und Dresden war sie aufgewachsen. Im Klassischen Tanz wurde sie bei dem bekannten Solotänzer und Ballettmeister Heinrich Kröller in Dresden und München ausgebildet und als unbegabt entlassen. Mary Wigman dann in Dresden erkannte 1920 das Talent und nahm sie in ihre frisch eröffnete Schule auf.

Nicht hübsch und lieblich

Bei Mary Wigman konnte Palucca sofort ihre ganz individuelle Ausprägung des Tanzes zeigen. Der Ausdruckstanz forderte ja gerade der inneren Bewegtheit eine äußere Bewegung zu geben. Paluccas Parole hieß damals: Ich will nicht hübsch und lieblich tanzen! Die Wigman bezeichnete ihre junge Schülerin als skrupellos, besessen und sich temperamentvoll völlig verausgabend. Mitschülerinnen wie Leni Riefenstahl sehen es ähnlich. Schon damals sei das Besondere der Palucca sichtbar und dass sie einmal Karriere machen würde, absehbar gewesen. Palucca konnte ihr eigenes Temperament kaum zügeln. Der Kritiker Pawel Barchan beschrieb 1923 in der Zeitschrift „Die Dame“ das Herausragende der jungen Tänzerin: „Die Palucca ist in ihrem Tanz wie gestanzt, wie gehämmert, wie aus der Pistole geschossen. Sie ist wie ein Schrei, und Rhythmus ist ihre Sprache, ihr unbändiges Leben. Ihr Trotz ist Kraft und nicht Hysterie. Nicht im Gehirn, es sitzt im Rückgrat, in den Schultern, der Wille und der Rhythmus (und im Nacken vielleicht der Teufel).”

Das musste wohl auch den jungen Fabrikantensohn Friedrich Bienert mitgerissen haben, mit dem Palucca von 1924 bis 1930 verheiratet war. Im Hause Bienert verkehrten zu dieser Zeit berühmte Künstler wie Kandinsky, Klee oder Moholy-Nagy. Sie alle lernte Palucca kennen, lernte von ihnen und wurde von ihnen unterstützt. In der ehelichen Wohnung gab Palucca Unterricht und erfand ihre Tänze, mit denen sie die Menschen in Deutschland und Europa zu Begeisterungsstürmen hinriss – wie den Tanzjournalisten John Schikowski, der 1926 bereits in seinem Buch Geschichte des Tanzes schrieb: „Dieser jugendfrische Kraftmensch mit dem kecken Gassenjungenprofil ist eine Kämpfernatur, scheint mit dem Raum wie mit einem unsichtbaren Feinde zu ringen, marschiert mit festem, sicherem Paradeschritt zum Angriff auf, umkreist in wilden Sprüngen den Gegner, entzieht sich seinen Gegenstößen durch überraschende Schwenkungen und Wendungen, stürmt, stampft, fliegt über die Bühne, fährt in kreiselnden Wirbelstürmen durch die Luft und triumphiert schließlich über das besiegte Chaos des Raumes, das durch seine Schritte, Sprünge und Schwünge zum harmonisch gegliederten Kosmos gestaltet ist.”

Die Beschreibung der Tänzerin Palucca liefert gleichzeitig eine Charakterisierung des Menschen. Mit Wendigkeit und Angriffslust hatte sich die Kämpfernatur Palucca an die Spitze der europäischen Tanzavantgarde getanzt und wurde, dort angekommen, 1933 als „deutscheste Tänzerin“ ins „Dritte Reich“ eingegliedert.

Überleben

Die Wogen der Begeisterung trugen sie bis ins Olympiastadion, wo sie 1936 als Solotänzerin im Eröffnungsprogramm der Spiele auftrat. Doch der NS-Ruhm währte nur kurze Zeit. Zu ihrer Herkunft befragt, musste Palucca offenbaren, dass sie – im Sprachgebrauch der Nationalsozialisten – „Halbjüdin 1. Grades mütterlicherseits“ war. Sofort ließ das neue Deutschland sie fallen. Alle „Kraft-durch-Freude“-Verträge wurden gekündigt, die Theater verhielten sich abwartend. Die Schule musste Palucca schließen, durfte nur die in der Ausbildung befindlichen Schüler bis zum Abschluss 1939 führen. Doch aufgrund von geschickten Verhandlungen, an denen auch ihr damaliger Lebensgefährte Will Grohmann beteiligt war, erhielt Palucca eine Sondergenehmigung, die ihr das Auftreten gestattete. Einzige Ausnahme: bei Veranstaltungen von Reich und Partei wollte man Palucca nicht. Und so tanzte Palucca durch das „Dritte Reich“ bis zur zweiten Proklamierung des totalen Krieges 1944.

Neuanfang in der DDR

Den 13. Februar 1945 überlebte Palucca in Dresden. Die restlose Zerstörung ihres Wohnhauses Bürgerwiese 25 erzwang einen vollständigen Neuanfang. Mit ungebremster Kraft stürzte sie sich in den kulturellen Wiederaufbau, eröffnete die erste Nachkriegssaison mit einem Tanzabend in der Dresdner Tonhalle, begann wieder zu unterrichten und gestaltete als parteilose Stadtverordnete in der SED-Fraktion die Geschicke der Stadt mit. Trotz aller folgenden Auseinandersetzung mit den DDR-Kulturfunktionären blieb Palucca in Dresden und damit in der DDR. Nach Beendigung ihrer Tanzkarriere 1950 erzog sie Generationen von Tänzern, bildete offiziell auch Pädagogen, „unter der Hand“ auch Choreografen aus, die alle das Tanztheatergesicht der DDR entscheidend prägten. Das wollten die Genossen in der DDR lange Zeit nicht erkennen, wollten Palucca im Sinne des sozialistischen Realismus bevormunden und in ihrer künstlerischen und pädagogischen Arbeit beeinträchtigen. Zu einer letzten ultimativen Verwarnung holte Palucca aus, als sie im Frühjahr 1959 die DDR verließ und von West-Berlin und Sylt aus ihre Forderungen diktierte. Erst dann erkannten die Genossen der SED die Bedeutung der Palucca für die DDR, gaben klein bei und überreichten Palucca den vormals verweigerten Nationalpreis bereits 1960.

Nach einem langen kurven- und erfolgreichen Leben starb Palucca friedlich in der Nacht vom 22. zum 23 März 1993 im katholischen St.-Joseph-Krankenhaus in Dresden. Ihr unscheinbares Grab auf dem Inselfriedhof in Kloster auf Hiddensee schmückt lediglich ein Findling mit der Inschrift PALUCCA. Doch Blumen und Steine künden davon, dass dieser abgelegene Ort schon fast zu einer Wallfahrtstätte geworden ist für Menschen, die weiterhin auf der Suche nach Palucca sind. Denn Palucca hat ihr Leben stets gehütet und nur ausgewählte Informationen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Und so wird die wohl bekannteste Palucca-Schülerin, Ruth Berghaus, für immer Recht behalten mit ihrem legendären Ausspruch: „Niemand weiß, wer Palucca war, ist oder sein wird.”



Kommentare zum Festprogramm der Palucca Schule

Feier der Harmonie

Packende und doch zwiespältige "Hommage à Palucca"

Bernd Klempnow, Sächsische Zeitung, 10. Januar 2002
Hommage

Den 100. Geburtstag der großen deutschen Tänzerin und Pädagogin Gret Palucca feierte die von ihr gegründete Schule am Dienstag im ausverkauften Schauspielhaus mit einem Festprogramm.

Jubiläen haben eigene Lobrituale, wie bei der Hommage à Palucca zu erleben war: würdigende Festrede, Stipendien, ein biografischer Film und Paluccas Kunst aufgreifende Choreografien. Nur stellt sich nach den jüngsten Publikationen die Frage, ob man die 1993 gestorbene Künstlerin mit ihrem nun offenkundig widersprüchlichen Leben nahezu kritiklos feiern kann?

Der Ballettschamane John Neumeier, der sie nie tanzen sah und auch erst sechs Jahre vor ihrem Tod persönlich kennen lernte, sprach über den Einfluss der modernen deutschen Tänzer auf den ihn prägenden American Dance. Was Neumeier zunächst nur bei seiner Lehrerin in Amerika erfuhr, später in Bildern und Filmen von Palucca sah, habe "mit ungeschminktem Ausdruck und Mut zur Hässlichkeit" eine neue tanztheatralische Dimension erlaubt. Neue Dynamik verband sie mit einer lyrischen Schwere. Ihr größtes Verdienst als Pädagogin sei, dass sie "die innewohnende Kreativität" von Schülern freizusetzen vermochte.

Das demonstrierten überzeugend Ausschnitte aus einem neuen Film. Anfeuernd, anspornend, ermutigend wirbelte sie - selbst als Hochbetagte - im Unterricht voran. Zuweilen schien sie mit ihrer Lebendigkeit die Jüngste im Saal. Aber auch von "treffender Härte" berichteten Schüler, "doch fing sie uns unten wieder auf". Wer nicht wahrhaftig war, den lehnte Palucca ab. Konrad Hirsch und Ralf Stabel sind dabei, den ersten kritischeren Film über sie zu produzieren. "Ich will nicht hübsch und lieblich tanzen" verbindet bekanntes Material mit neu entdeckten Originalaufnahmen, etwa die komplette Aufzeichnung der Serenata-Choreografie von 1933. Sie fanden interessante Zeitzeugen, die Interpretationsversuche für die merkwürdigen Wendungen in Paluccas Karriere gaben. So stellt sich aus Sicht des Kritikerpapstes Klaus Geitel die Teilnahme Paluccas bei der Eröffnung der Olympischen Spiele 1936 als "fleisch gewordene Freude" dar. "Sie hüpfte wie eine kleine weiße Maus im Rund." Der Kunstpsychologe Rudolf Arnheim charakterisierte die Beziehung von Bauhaus-Künstlern zu Palucca als "wohl auch persönlich-erotische Beziehung". Die Tänzerin sei diejenige gewesen, die "Anregungen aufnahm" und nicht gab, wie es bislang hieß.

Stärker als in seiner Biografie relativiert Filmautor Stabel seine Protagonistin und kommentiert weniger. So soll Paluccas eher ablehnende Haltung zur Parteiführung, von der sie gern Ehrungen nahm, eine gelangweilte Künstlerin inmitten ebenso gelangweilter Pioniere verdeutlichen. Täuscht der erste Eindruck einer zahmen Kritik? Sobald Palucca auftritt, nimmt ihre Ausstrahlung gefangen. Vielleicht ist so zu erklären, weshalb jene, die die mitreißende Künstlerin kannten, ihr Vorbild nicht verurteilen.

Dass der Kunstanspruch der Jubilarin an ihrer Einrichtung unverändert gilt, sollte sich beim Premierenauftritt des Palucca Tanz Studios zeigen. Zehn Absolventen, teils arrivierte Choreografen, studierten mit Mädchen des 2. Hauptstudienjahres kurze Arbeiten ein, die Hanne Wandtke erbepflegend zusammenstellte. Ihre Überleitungen zwischen den Stücken und das sensible Spiel von Paluccas langjähriger Pianistin Antje Ladstätter gaben der Aufführung einen Zusammenhalt, wie selten bei Schulabenden.

Wie bei Paluccas erster Gruppe tanzten diesmal nur Mädchen, leider auch in den langen Kostümen, die für zeitgenössische, kantige Bewegungen oft ungeeignet sind. Die Pastelltöne der Kleider trugen ihr Übriges bei, die Premiere in Harmonie abgleiten zu lassen - hätte Hanne Wandtke zum Schluss nicht Momente aus Serenata und Bilder aus den anderen Choreografien eindrucksvoll vereint. Das Publikum war begeistert. Wahrscheinlich trifft John Neumeiers Beobachtung nicht nur auf Palucca zu. In deren Augen habe er einmal einen "fast naiven Enthusiasmus für den Tanz" gesehen.


Sie nahm, was die Welt ihr gab

Festveranstaltung zum 100.Geburtstag von Palucca im Dresdner Schauspielhaus

Gabriele Gorgas, Dresdner Neues Nachrichten, 10.Januar 2002

Palucca HommageTänzerischer kann eine Festveranstaltung zum 100. Geburtstag von Gret Palucca (1902-1993) kaum sein. Diese unvergleichliche Tänzerin zu erleben in dokumentarischen Filmaufzeichnungen, dazu die stimmige Hommage von heutigen Tanzstudentinnen sowie Choreographen, die aus der Palucca Schule hervorgegangen sind, und der Festvortrag eines um Tanz Wissenden, über den nachzudenken lohnt - das ist schon eine wahre Freude.

Er sei überrascht gewesen, meint der aus Hamburg angereiste John Neumeier, dass ausgerechnet ihm die unerwartete Ehre zuteil wurde, noch mehr, dass er zugesagt habe. Und spricht über Entwicklungsparallelen in der Tanzmoderne, Nijinskis letzten Auftritt 1919 in St. Moritz, über das feine Netz an Wegen, direkte und indirekte Begegnungen, die ihn zu Palucca geführt haben. Besonders beeindruckt habe ihn ihr Mut zum Häßlichen, Wahrhaftigen. "Tanz ist vergänglich. Ist Tanz vergänglich? Wenn ich an Paluccas leuchtende Augen denke, tanzt sie weiter."

Dieses Funkeln, Leuchten der Augen, ihre unglaubliche Energie und Bewegunglust, wenn sie wie ein Kobold durch den Raum wirbelt, sich im Tanz wiegt wie auf einer Meereswoge, überträgt sich mit dem neuen Film zu Palucca "Ich will nicht hübsch und lieblich tanzen" von Konrad Hirsch und Ralf Stabel atmosphärisch auch auf das Publikum des Abends. Palucca lebt Tanz, fühlt ihn mit Leib und Seele, muss ihn nicht erjagen. Hanne Wandtke, ihre Schülerin, später Mitarbeiterin, heute Professorin für Modernen Tanz an der Dresdner Schule, zitiert einen der Lieblingssätze Paluccas, wenn ihr authentisches Gestalten gefiel: "Das sind die Dinge. Die Dinge, die den Künstler ausmachen." Zuweilen sind in den alten Aufnahmen die Augen der Palucca aber auch müde, matt, im Erinnern an den Krieg oder in Zeiten erschöpfender Auseinandersetzungen mit Dogmatikern.

Der Film bezieht unterschiedliche Aussagen, Fotos, Filmmaterialien ein. Mitarbeiter, Freunde, Kritiker äußern sich. Darunter auch hochbetagt Rudolf Arnheim, der bereits in den zwanziger Jahren über Palucca in der Weltbühne schrieb. Fast programmatisch seine Bemerkung: "Sie nahm, was die Welt ihr gab." Oder die späte Erkenntnis des früheren Ballettpapstes der DDR, Eberhard Rebling, die Gegner der Moderne seien in Klischees festgefahren gewesen, hätten diese als Ganzes, so auch den Neuen Künstlerischen Tanz von Palucca, abgelehnt. Ein guter, ein wichtiger Film. Der in unaufdringlicher, rhythmisch erspürter, intelligent kommentierter Symbiose von Bild, Wort, Vergangenem, Gegenwärtigem viel erzählt über das Nehmen und Geben der Palucca, das schwer zu fassende Phänomen ihrer Eigenart.

"Ich glaube, dass jeder Mensch träumen muss, und wahrscheinlich auch tut. Hoffentlich." Dieser Gedanke Paluccas ist in schönster Weise in der Tanzhommage assoziiert. Die unabhängig voneinander dafür entstandenen Schöpfungen von elf Choreographen, erarbeitet mit acht Studentinnen aus dem 2. Jahr des Hauptstudiums der Palucca Schule Dresden, unterscheiden sich stilistisch, scheinen dennoch wie ein Ganzes. Eine vielgliedrige Pflanze, die aus der gleichen Wurzel erwächst. Hanne Wandtke hat die Tanzminiaturen mit Geschick ineinandergewoben und im Déjà-vu erinnert. Erstaunlich, mit welcher Inspiriertheit die jungen Tänzerinnen den Impulsen der Choreographen folgen. Die sie gut motiviert haben müssen, begleitet von Tanzpädagogen und Choreographiestudenten der Schule.

Wunderbar schlicht, sparsam erzählend beispielsweise das Frauenduett von Birgit Scherzer zu einem der Venetianischen Gondellieder von Bartholdy, einfühlsam getanzt von Julia Kathriner und Helene Sophie Wawer. Die beiden sind eins, mit der Musik, mit sich, der Bewegung. Erfreulich auch, wie Holger Bey die Allemande von Bach in Szene setzt, spielerisch, konzentriert auf wenige Bewegungsvariationen. Mareike Franz beweist in dem Solo Gespür für Spontanität, Nuancen in den Tempi. Launisch, leicht führt Arila Siegert in der Sorocaba von Milhaud ihre Quadriga am Zügel, und Irina Pauls entwirft einen weiblichen Spießrutenlauf zu einer Etude von Chopin. Christine Joy Ritter rechnet in der "Summertime"-Geschichte von Dietmar Seyffert mit einem imaginären geliebten Feind ab. Mit Marcato verlockt Mario Schröder zur Belagerung des Tasteninstruments, bezieht die Pianistin - sämtliche Arbeiten werden von Antje Ladstätter am Flügel begleitet - in das Geschehen ein.

Zum Auftakt der Hommage, in der ebenso Arbeiten von Anke Glasow, Mario Heinemann, Silvana Schröder und Raymond Hilbert zu erleben sind - zugleich ist es die Geburtsstunde des Palucca Tanz Studios, zu dem ebenso Lilli Horváth, Corinne Emmenegger und Marianne Koch gehören - tanzt Maria Zimmermann Paluccas Serenata von 1932. Eine enorme Herausforderung, nunmehr schon für die dritte Tanzstudentin der Schule. Erstmals wurde an diesem Abend ein Stipendium für zeitgenössische Choreographie und zeitgenössischen Tanz der Kulturstiftung Dresden der Dresdner Bank vergeben, an die Absolventin Nora Schott. Zudem die Förderung einer ergänzenden Jazz-Tanz-Ausbildung für Anne Retzlaff, die sie in New York absolvieren wird.


Das Auftauen der Augenblicke

Tanz-Hommage und Ausstellung erinnerten an 100. Geburtstag  Paluccas

Von Andreas Hillger, Mitteldeutsche Zeitung, Dessau 12.Jan. 2002

Ein ganzes Leben aus dem Koffer: Von der Geburt am 8. Januar 1902 bis zum Tod am 22. März 1993 passen die Erinnerungen an Gret Palucca zwischen 14 Hartschalen-Deckel, die den Blick in bonbon-bunt beleuchtete Nischen freigeben. So will es jedenfalls eine kleine, praktikable Ausstellung der Akademie der Künste und der Dresdner Hochschule für Tanz, die derzeit im Bauhaus zu sehen ist. Anlass für die Wander-Schau ist der 100. Geburtstag der Choreografin und Tanz-Pädagogin Palucca, deren Karriere eng mit der Dessauer Hochschule für Gestaltung verbunden war.

Dass das linde Licht freilich nicht nur die Höhen dieser einzigartigen Laufbahn färbt, ist angesichts der kompakten Präsentation keine Selbstverständlichkeit. Doch die Erben der Künstlerin sehen - zweifellos zu Recht - bei aller gebotenen Achtung keinen Anlass zur kritiklosen Glorifizierung. So kommt zumindest der gefährliche Flirt der erfolgreichen Ausdrucks-Tänzerin mit den nationalsozialistischen Machthabern zur Sprache, der trotz "deutschem Gruß" und Teilnahme an der Olympia-Eröffnung 1936 in einer gesellschaftlichen Grauzone endete. Die späteren Arrangements mit der DDR-Obrigkeit bleiben freilich vage - vielleicht, weil sie auch in der Geschichte der Hochschule noch nicht endgültig bewertet worden sind.

Wer aber das persönliche Verhältnis der mehr oder minder berühmten Absolventin zu ihrer Über-Mutter studieren will, wird im Jubiläumsjahr abseits des Koffer-Archivs fündig: Hommage à Palucca heißt ein Tournee-Programm, das szenische Miniaturen einstiger Schülern zum ironisch-lakonischen Reigen vereint. Dabei bietet das Ausdrucks-Spektrum der Nestorin vielfältigen Anlass für Einverständnis und Widerspruch - eine Fortschreibung und Konterkarierung jenes gestischen Kanons, mit dem Palucca seit den 20er Jahren ihr Publikum und die Kritik begeisterte.

Die Zeitlosigkeit, die Schul-Direktor Enno Markwart etwa der auch zum Bauhaus-Gastspiel in einer Rekonstruktion von Hanne Wandtke gezeigten Serenata bescheinigt, bleibt zunächst allerdings kaum mehr als eine Behauptung. Paluccas raumgreifendes Solo, das entspannt fließende Bewegungen mit kraftvoller Konzentration kombiniert, wirkt heute wie ein patiniertes Prachtstück aus der Affektenkammer des Tanz-Museums.

Grazie und Grandezza sind noch immer erkennbar, der revolutionäre Impuls aber wurde längst vom ästhetischen Konsens aufgesogen. Eine ähnlich heilsame Entzauberung war am gleichen Ort bereits mit Oskar Schlemmers Bühnentänzen zu erleben: Was auf historischen Fotografien als Ikone der klassischen Moderne erscheinen mag, gibt sich in akribischer Reanimation leicht als banal oder gar lächerlich zu erkennen.

Wie man die eingefrorenen Augenblicke dennoch zu flüssigem und folgerichtigem Ablauf auftaut, zeigen hernach Anke Glasows Bagatellen. Hier verbinden sich die expressiven Posen und vitalen Sprünge zum artistischen Pflichtprogramm mit hohem Schwierigkeits-Grad: Eine Übung, mit der sich die Studentinnen über die gemeinsame Basis verständigen und zugleich den Boden für die folgenden Kür-Stücke bereiten.

Dass die Choreografen dieser Etüden jedoch sehr unterschiedlichen intellektuellen Aufwand betreiben, ist unübersehbar. Während sich etwa Irina Pauls sichtlich zurücknimmt, um ihre unverkennbare Handschrift nicht allzu dominant wirken zu lassen, beschränken sich Choreografen wie Mario Heinemann oder Holger Bey auf weitgehend akademische Exkurse. Und während Raymond Hilbert mit seiner Melodie kaum mehr als eine Körperskizze im Magnetfeld der Dinge entwirft, überrascht Arila Siegert mit einer zirzensischen, heiter-resignativen Reflexion über die grell ausgeleuchteten Schattenseiten der Branche.

Überhaupt ist es - abgesehen von Mario Schröders klugem Anti-Manifest Marcato - ein Abend der starken Frauen, die sich ihres Körpers und seiner Wirkung voll bewusst sind.


Ich tanze, also bin ich

Ralf Stabel: Tanz, Palucca!

Von Manuel Brug in: Die Welt, 12.Jan.2002

Ralf Stabel: Tanz, Palucca! Henschel, Berlin 2001, 320 S., 25 EuroTanz lässt sich schwer zwischen Buchdeckel bannen. Anders noch als bei der ähnlich ephemeren Musik, gibt es hierfür nicht einmal ein gültiges Notationsystem, mit dem allgemeinverständlich operiert werden kann. Deshalb ist es geschickt, dass Ralf Stabel - abgesehen von knappen Zeitzeugen-Beschreibungen - nicht den Versuch unternimmt, die Kunst einer singulären Tänzerin und Choreografin wie der von Gret Palucca in Worte zu fassen. Und dennoch gelingt ihm das stauenswerte Charakterbild einer Frau, die als Künstlerin vor allem ihre Individualität gepflegt hat, die sich jeder Schulbildung, Ordnung und Systematik verweigerte, obwohl sie, die am 8. Februar 100 Jahre alt geworden wäre, neben Mary Wigman jahrzehntelang die berühmteste Schule für deutschen Ausdruckstanz geführt hat.

Oder muss man eher sagen für Neuen künstlerischen Tanz? So nämlich definierte die zeitweise in den USA aufgewachsene Münchnerin Palucca, die in Berlin am meisten aufgetreten ist, doch in Dresden mehr als nur die zweite Lebenshälfte verbracht hat und auf Hiddensee begraben liegt, ihren Stil. Vor allem, um sich gegenüber der bürgerlich mystischen wie formalistischen Anwandlungen misstrauisch beäugenden DDR-Kunstdoktrin eines sozialistischen Realismus nicht verdächtig zu machen. Was ihr kaum gelungen ist. Von diesem steten Kampf der späteren Nationalpreisträgerin um Tanzrichtung und Obergewalt über die Schule am Neuen Garten berichtet Stabel so ausführlich wie spannend. Die Palucca und die Behörden, das war ein Kampf zweier ungleicher Gegner. Die weithin berühmte, als Garantin für die Weltoffenheit des deutschen kommunistischen Staates überlebenswichtige Tänzerin fand wie die Maus immer ein Schlupfloch, um Staat und Stasi auszutricksen und ihre Herkunft, Vergangenheit und Leistung vor dem Krieg im Halbdunkel einer bereits Geschichte gewordenen Vergangenheit zu belassen. Erst im hohen Alter fand sie ihren Frieden mit der DDR. 1993 ist Gret Palucca, die so wichtige Choreografen und Tänzer wie Ruth Berghaus, Hannelore Bey, Dietmar Seyffert, Arila Siegert, Hanne und Harald Wandtke geformt hat, im Alter von 91 Jahren gestorben.

Ralf Stabel macht in seiner so flüssig wie sachlichen, nie besserwisserisch sich in ein Gestrüpp von Vermutungen flüchtenden Biografie mit vielen Legenden der Palucca Schluss, die diese sich - immer PR-bewusst - bequem zurecht gelegt hatte. Er bringt Licht in ihre bayrische Herkunft. Er schildert ihren Werdegang beim Münchner Ballettmeister Kröller, der sie im klassischen Tanz für ungeeignet hielt. Ausgewogen wird der schwierige Abnabelungsprozess der Palucca von Übermama Mary Wigman geschildert. Stabel beschreibt, wie viele der Protagonisten des deutschen Ausdruckstanzes zu Fackelträgern der Nazis wurden. Was der Palucca vielleicht nur erspart blieb, weil sie Halbjüdin war. Was freilich erst nach ihrem Beitrag zu den Olympischen Spielen von 1936 ruchbar wurde. Aufgrund ihrer Berühmtheit durfte sie weiter auftreten, wenn auch nicht bei Parteiveranstaltungen. Stabel listet auf, dass Palucca nie mehr Gastspiele gab, als zwischen 1939 bis 1944. Schon im Sommer 1945 durfte sie ihre Schule wiedereröffnen. Was dann an Schikanen folgte, mutete ihr aus der Nazizeit bekannt an. Doch die sie später perfekt ausfüllende Opferrolle, die spielte Palucca nicht.

Schwierig erscheint es heute - und der getreue Eckermann Stabel überlässt solches späteren Tanzwissenschafts-Monografen - die genuine Leistung, die Faszination der Palucca weiterzutragen. Ihre Kunst war eine heitere, gegenwärtige, in der klassischen Musik, gerne südlicher Herkunft, aufgehende. Ihr Motto "TANZ PALUCCA", das abgewandelt, dem Buch seinen Titel gibt, war das einer aus dem Bauch kommenden Improvisation, der Freude an der schönen, impulsiven Bewegung. Wo andere urdeutsch im Tiefen gründelten und gerne pathetisch wurden, tanzte die Palucca als frischer Wirbelwind und furioser Springteufel theorieungesättigt drauflos. In der DDR war sie eine Heilige, in der BRD hat sie man sie vorwiegend als Pädagogin wahrgenommen. Sie wollte nicht mehr, das sich das änderte. Mit Palucca sind auch ihre Stücke gestorben.


Sprünge und Kurven

Neun Jahre nach Paluccas Tod hat der erste kritische Dokumentarfilm in Dresden Premiere

Von Bernd Klempnow, Sächsische Zeitung, 4. Sept. 2002

der beruehmte Palucca-Sprung

Die Dresdner Tänzerin und Pädagogin Gret Palucca (1902 –1993) war die meistgefilmte Künstlerin der DDR. Die letzten Aufnahmen entstanden 1990. Und Palucca gehörte zu jenen Stars, die sich frühzeitig des Mediums bedienten. Dennoch gab es bislang keine filmische Biografie, sondern eher nacherzählende, nie hinterfragende Darstellungen. Vielleicht sind kritische Fragen erst nach dem Tod einer solchen, Generationen prägenden Persönlichkeit möglich?

Der Tanzwissenschaftler Ralf Stabel beschäftigt sich seit Jahren mit dem kurvenreichen Leben Paluccas, recherchiert in vielen Archiven und konnte in seinen Publikationen fundiert manche Legende widerlegen. Mit Konrad Hirsch hat er einen Partner gefunden, der mit ihm das Risiko eines kritischen Filmporträts wagte. Aus bekanntem, aufgespürtem Material und historischen Dresden-Aufnahmen sowie dank klug geführter Interviews mit Bewunderern, Schülern und Kollegen über die Karrierewendungen und Eigenheiten der Frau entstand die spannende Dokumentation „Ich will nicht hübsch und lieblich tanzen!“. So berichtet Leni Riefenstahl vom gemeinsamen Unterricht bei Mary Wigman („Sie war schwerlos.“) und der Kritiker Klaus Geitel vom Olympia-Auftritt 1936 („Sie war die fleischgewordene Freude.“). Gut eine Stunde, nur eine Stunde bleibt in der Kino- und TV-Version für die Annäherung an das Phänomen. Wirkungsvolle Montagen illustrieren Fakten, gekonnt setzen Hirsch und Stabel auf den Bruch zwischen suggestiven Palucca-Fotos und energievollen Tanzsequenzen dieser faszinierenden, schönen Frau. Der Film ist berührend und ehrlich und dürfte dadurch der Frau mit all ihren Facetten nahe kommen.


Palucca - Der Weg zum Ruhm

Die erste und einzige deutsche Hochschule für Tanz in Dresden will das Wort "modern" aus ihrem Vokabular streichen und durch "zeitgenössisch" ersetzen
Von Daniel Sturm, in: "Die Welt", 28.Sept.2001

Nein, einen Skandal werde es nicht geben, meint Enno Markwart. Was da seit gestern im Haus der Deutschen Wirtschaft in Berlin von der Palucca Schule Dresden präsentiert werde, sei so seriös, wie eine Ausstellung zur 75-jährigen Geschichte der einzigen Hochschule für Tanz in Deutschland eben nur sein könne. "Wer Szenenfotos oder Verweise auf die Csárdásfürstin erwarte, wird eines Besseren belehrt werden. Dieses Kapitel ist abgeschlossen, und es ist auch keineswegs wichtig für das Selbstverständnis der Schule."

Ein Kapitel, das allerdings für einen der größten Theaterstreits der letzten Jahre in Deutschland sorgte. So groß, dass ihn schließlich ein Gericht schlichten musste. Hintergrund: Für die Silvester-Inszenierung der Operette Die Csárdásfürstin an der Sächsischen Staatsoper Dresden hatten Regisseur Peter Konwitschny und Enno Markwart als Choreograph die Hauptdarstellerin mit einer kopflosen Leiche tanzen lassen. Weil das einem Teil des Publikums unzumutbar schien, wollte die Opernleitung die Szene herausnehmen, wogegen sich die Künstler wehrten und schließlich klagten.

So absurd wie der Fall war dann auch das Urteil: Dreimal durfte das Stück in der Originalfassung und einmal in der zensierten Version aufgeführt werden. Markwart, selbst Palucca-Absolvent und seit vier Jahren Rektor der Palucca Schule Dresden, ist immer noch amüsiert, wenn er davon erzählt. Und irgendwie auch ganz zufrieden, weil damit seine Lehranstalt landauf, landab in der Presse stand.

Sicher, Gret Palucca, die wichtigste deutsche Repräsentantin des Ausdruckstanzes, kennt man. Dass sie in Dresden 1925 eine Schule gründete, die seither - von einer sechsjährigen Unterbrechung in der Nazizeit abgesehen - Künstler von Weltrang hervorbrachte, ist hier und da schon eher aus dem Blick geraten. Zumal Palucca auch in Berlin und Stuttgart Schulen eröffnete. Persönlich ausgebildet hat sie ihre Schüler bis zu ihrem Tod 1993 jedoch nur in Dresden. Darunter später so erfolgreiche Künstler wie Marianne Vogelsang, Dore Hoyer und Ruth Berghaus.

Aus den folgenden Absolventengenerationen sind zu nennen Joachim Ahne, Dietmar Seyffert, Hanne Wandtke, Harald Wandtke, Enno Markwart, Arila Siegert, Birgit Scherzer, Holger Bey, Stephan Thoß, Mario Schröder, Anne Retzlaff, Mario Heinemann, Irina Pauls, Nora Schott...

Dennoch will sich die Hochschule - sie wurde erst vor zwei Jahren in den akademischen Stand erhoben - 2003 per Studienordnung von dem Begriff modern verabschieden. Was wie eine Revolution klingt, ist nach den Worten Markwarts jedoch nur die logische Konsequenz aus dem Sieg von Palucca und Co. über die Gralshüter des romantischen Balletts: "Mittlerweile spricht kein Choreograf der Welt mehr von klassischen oder modernen Bewegungen. Modern ist ein verwaschener Begriff." Deshalb wolle die Schule künftig "zeitgenössischen Tanz" unterrichten, was beide Tanzrichtungen einschließe.

Gret Palucca, selbst im klassischen Ballett ausgebildet, legte großen Wert darauf, dass ihre Schüler den Tanz wie ein Handwerk von der Pike auf erlernen. Eine Ansicht, die Markwart für aktueller denn je hält in einer Zeit, "in der der Laie nicht mehr erkennen könne, was Kunst und was Scharlatanerie ist".

Auf die Frage, was denn einen Palucca-Tanz ausmache, schmunzelt Markwart und meint: "Man kann ihn nicht nachmachen." Die Schule habe einmal einen Tanz der Palucca rekonstruiert, was nur unter Mühen gelang. Und genau das müsse auch das Ziel der Palucca-Schüler sein: So improvisations- und ausdrucksstark zu tanzen, dass jeder Auftritt einmalig ist.

Die Voraussetzungen dafür sind gut. So kümmern sich in Dresden zwölf Professoren und Dozenten - darunter fünf ehemalige Palucca-Schüler- um die 200 jungen Talente (151 weiblich, 48 männlich). Der Unterricht, der die allgemeinschulische Ausbildung einschließt, beginnt in der 5. Klasse. Je nach Begabung stehen den Schülern neben einem achtjährigen Diplomstudiengang Bühnentanz und einem vierjährigen für Tanzpädagogik auch eine Meisterklasse und zwei Ergänzungs-Studiengänge in Choreografie und Bühnentanzpädagogik offen. 2004, wenn die Palucca Schule ihr neues Haus in Dresden bezieht - derzeit läuft der Architektenwettbewerb -, sollen 250 Schüler unterrichtet werden.

Neben dem Nachwuchs möchte Enno Markwart künftig auch den Profis Lehrangebote machen, um sie auf die Zeit nach der Karriere vorzubereiten. So schwebt ihm eine akademische Weiterbildung in Tanz- und Ausdruckstherapie vor - womit die Palucca Schule Dresden einmal mehr neue Wege beschreiten würde.

Die Fülle von Zäsuren erklärt Markwart mit dem zu Ende gegangenen Jahrhundert, das eng verknüpft sei mit der Ära von Gret Palucca. Nun stehe man vor einem neuen Jahrtausend und vor der Frage, wohin sich der Tanz entwickele. Und die Suche nach den Antworten habe erst begonnen.

Doch zuvor will die Hochschule nochmals die große Vergangenheit beschwören und den 100. Geburtstag von Gret Palucca am 8. Januar 2002 zu einem rauschenden Fest der Sinne machen.

Palucca Schule Dresden
Palucca Bio im Archiv der Akademie der Künste Berlin

PS: Als um 1954 im Zuge von Partei-Polemik gegen den sogenannten Formalismus die Palucca Schule geschlossen werden sollte, war Walter Felsenstein der einzige, der für sie in einer Sitzung der Akademie der Künste Partei ergriff.
Felsenstein war in den Zwanziger Jahren eng mit dem expressionistischen Aufbruch verbunden, was er hinter der offiziellen Rede vom sogenannten Realistischen Musiktheater klug verbarg.
Er selber hatte sich in seinen frühen Berufsjahren mit Tanz und Choreografie befasst, wusste dann auch später zumal die Chöre wie Choreografien zu inszenieren.

Zu der rbb-Sendung von Claudia Henne Juli 2015 über den Tanz in der DDR (28')