Über die planmäßige Verfertigung der Gedanken vor dem Reden
Bill Clinton wusste immer, dass ein Präsident schauspielern muss
"Ursonate" nach Schwitters (U: Dessau, Bauhaus,
1997)
Große politische Reden gleichen dem Scheinriesen inauto-
Michael Endes Kinder- und Erwachsenenbuch "Jim Knopf und
Lukas der Lokomotivführer": Mit wachsender Entfernung
werden sie noch größer und wirken noch bedeutsamer.
Kernsätze wie Ernst Reuters "Ihr Völker der Welt..." oder Kennedys "Frage nicht, was Dein Land für
Dich tun kann..." sind auf diese Weise
über den Tag und Anlass hinaus zu Bestandteilen der
rhetorischen Folklore geworden. Das kann politische
Versprechen, die sprachlich zugespitzt formuliert werden, so
gefährlich, weil unvergesslich machen. Des älteren Bushs "Read my lips: no new taxes" blieb jedem
amerikanischen Steuerzahler erst in freudiger und dann in
wütender Erinnerung. Das "Basta!", mit dem der von
den Gewerkschaften gereizte Bundeskanzler den Eckstein seiner
Rentenpolitik ein für allemal festmauern wollte, wird ihm
aus den Reihen der Opposition bis zur nächsten
Bundestagswahl wie ein höhnisches Echo entgegenschallen.
Auch Wochen danach ist von der Rede des
Bundespräsidenten, die er am 9. November 2000 vor einer
viertel Million Menschen am Brandenburger Tor hielt, kein
einziger Satz mehr in Erinnerung. Schuld daran ist nicht nur
Paul Spiegel, der nach Johannes Rau sprach und die
Demonstration gegen den wachsenden Rechtsradikalismus zu
einer radikalen Polemik gegen die Unionsrechte nutzte, wie
sie sich nur ein Betroffener erlauben konnte. Dem
Bundespräsidenten dagegen hätte man zu Recht jede
parteiische Äußerung übel genommen. Johannes Rau hielt auf
der Bühne vor dem Brandenburger Tor eine Rede voller
Aufrichtigkeit. Er sagte, was er glaubte. Er spielte keine
Rolle. Seine Rede hatte nichts Einstudiertes an sich. Niemand
konnte dem Bundespräsidenten vorwerfen, er habe seine Sätze
vorher geübt und routiniert vorgetragen. Nicht zuletzt
deshalb blieb seine Rede wirkungslos.
Wer spricht da noch von Affäre?
Zu den wirkungsvollsten Reden in der Amtszeit Bill
Clintons zählt die "State of the Union Message" von 1998. Die Arbeit an dieser Rede begann wenige Tage,
nachdem die Washington Post berichtet hatte, der
Präsident habe eine Affäre mit einer Praktikantin des
Weißen Hauses gehabt. Äußerlich ungerührt überzeugte der
Präsident seine Mitarbeiter davon, jetzt sei die
Vorbereitung der Botschaft an die Nation wichtiger als die
angebliche Affäre "with that woman, Miss
Lewinsky". Während seine Redenschreiber sich nach den
Enthüllungen der Post bereits
Rücktrittsformulierungen überlegt hatten, forderte Bill
Clinton sie auf, über einen möglichst wirkungsvollen
Kernsatz seiner "State of the Union Message" nachzudenken, der die müden Demokraten begeistern und die
aufsässigen Republikaner in Schach halten würde.
In seiner Botschaft vor dem Kongress betonte Clinton,
sechs Präsidenten vor ihm hätten vor den Gefahren warnen
müssen, die dem Land durch das Haushaltsdefizit drohten. "Ich dagegen kann Ihnen heute sagen, dass das
Haushaltsdefizit des Bundes - einst so unvorstellbar
groß, dass es elf Nullen hatte - jetzt schlicht und
einfach Null sein wird." In Zukunft würde es sogar
einen Haushaltsüberschuss geben. "Was sollen wir mit
diesem erwarteten Überschuss anfangen?" Auf diese Frage
folgte der entscheidende Satz: "I have a simple
four-word answer: Save Social Security first."
Die Demokraten sprangen auf und bereiteten dem
Präsidenten Ovationen. Hinter Clinton, im Sessel des
Speakers, saß der Republikaner Newt Gingrich. Gingrich, der
Choleriker, der einmal die Politik als "Krieg ohne
Blut" beschrieben hatte, konnte nicht anders: Er wurde
zu einer Friedensgeste gezwungen, er musste Beifall spenden,
erst sitzend und zögernd, dann im Stehen wie die Demokraten
vor ihm. Stumm und verbissen sahen die Republikaner dem
Schauspiel zu. "Wir sind erledigt", so Gingrich,
habe er in diesem Augenblick zu sich selbst gesagt. "Mit
diesem Kerl werden wir nicht fertig werden".
Diese Episode beschreibt Joe Klein in einem Artikel im New
Yorker, der unter dem Titel "Eight Years. Bill
Clinton and the politics of persistence" die
beeindruckenden Überlebensstrategien des US-Präsidenten
beschreibt, der entgegen vieler Prognosen seine zweite
Amtszeit vollenden wird. Joe Klein ist der seit langem nicht
mehr anonyme Verfasser von "Primary Colors", einem "politischen Roman", in dessen Hauptfigur, dem
Präsidentschaftsbewerber Jack Stanton, Leser wie Bill
Clinton mühelos Bill Clinton erkannten. Es zeugt von der
kaltblütigen Professionalität des Präsidenten, dass er
Klein, dessen Roman ihm alles andere als gefallen konnte, zu
zwei Interviews für seinen Artikel im New Yorker empfing.
Für Jack Stanton, ein Genie der zwischenmenschlichen
Kommunikation, beginnt Politik „mit einem
Händedruck“. Karriere macht er trotz seiner Affären,
nicht zuletzt, weil er fähig zum "aggressiven
Zuhören" und ein begnadeter Schauspieler ist. Den
Fiktionen lagen Fakten zugrunde: das Gleiche galt für Bill
Clinton. Lange Zeit war weder ihm noch seinen Mitarbeitern
der Kernsatz der Botschaft an die Nation eingefallen. Klar
war nur, dass dieser Satz auf die Ankündigung des
Haushaltsüberschusses folgen musste. Clinton verließ sich
nicht darauf, dass ein Redenschreiber den Satz finden würde.
Auch, als sein Mitarbeiter John Hilley den Vorschlag machte,
den Überschuss zu nutzen, um die Sozialversicherung zu
retten, war damit die genaue Formulierung noch nicht
gefunden.
Clinton probte die Kernpassagen der Rede vor seinen
Mitarbeitern im Weißen Haus. Als einziger trug er dabei
Krawatte und Anzug: Er war bereits im Kostüm. Anders als
Mirabeau, dessen Rede vom 23. Juni 1789 Kleist zu seinem
Essay "Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken
beim Reden" inspirierte, wusste Clinton, was er nach dem
Satz "What should we do with this projected
surplus?" sagen wollte - aber er wusste nicht
genau, wie. Also probte er die entsprechende Passage in
Rednerpose immer wieder, bis er sich auf einmal selbst
unterbrach: "Ich hab's. Wie wäre es damit: I have
a simple, four-word answer: Save Social Security first."
Der begeisterte Applaus seiner Mitarbeiter nahm die
späteren Ovationen der Demokraten im Kongress, den Newt
Gingrich abgerungenen Beifall und das betretene Schweigen der
Republikaner vorweg. Keiner wusste es in diesem Augenblick,
aber manche ahnten es: Der Präsident würde den
Lewinsky-Skandal überstehen. Clintons politische Karriere
ist auch die Karriere eines Schauspielers. Zunächst fielen
ihm dabei die Rollenwechsel schwer. Am Beginn seiner ersten
Amtszeit war es mühsam, dem Präsidenten beizubringen, dass
er nicht länger mehr den Gouverneur von Arkansas spielen
durfte. Schnell aber wurde Clinton zum Profi. Als er in einem
McDonalds bei einem großen Chicken Sandwich, einer
Riesen-Cola und einer "Tonne" Pommes erwischt
wurde, erwiderte er lachend: "Da ich bald ein ganz
normaler Bürger sein werde, sollte ich langsam anfangen,
diese Rolle auch zu spielen."
Das Wort "schauspielern" hat im Deutschen einen
negativen Klang. Es klingt nach Verstellung und
Unaufrichtigkeit. Nur zu gerne werden daher Politiker, diese
von einer Legislaturperiode zur anderen Durchreisenden, mit
dem fahrenden Volk verglichen. Der Generalverdacht der
Unaufrichtigkeit aber tut beiden unrecht. Im "Paradox
über den Schauspieler" hat Diderot daraufhin gewiesen,
dass der gute Schauspieler über Scharfblick, nicht aber
über Empfindsamkeit verfügen muss. Das vollständige Fehlen
von Empathie ist geradezu die Voraussetzung für den großen
Schauspieler. Um echt zu wirken, muss er "ein strenger
Kopist seiner selbst oder seiner Einstudierung" sein.
Seine Tränen müssen aus dem Hirn, sein Mitgefühl muss aus
dem Kopf kommen.
Selbstinszeniert ist der Mann
Dies gilt auch für den Akteur auf der politischen Bühne.
Der Empfindsame, so Diderot, wird nie ein großer König
sein, weil er alles empfindet, was er sagt. Der Politiker
muss auch Schauspieler sein. Keiner hat diese Lektion besser
gelernt als Bill Clinton, der musterhaft die Rolle des
Politikers im Übergang von der Industrie- zur
Kommunikationsgesellschaft verkörpert. Clintons Affären,
seine Ausflüchte und Leugnungen legen den Verdacht nahe,
damit werde die Unaufrichtigkeit zum politischen
Verhaltensideal erhoben. Doch dieser Verdacht geht in die
Irre.
Im Englischen ist "schauspielern" ein
unschuldiger Ausdruck: "to act" heißt zunächst
einmal, etwas zu tun, im Leben wie auf der Bühne. Die
Selbstinszenierung ist legitim - auch dann und nicht
zuletzt, wenn sie einer guten Sache dient. Sie ist für jeden
Politiker notwendig, der redend Wirkung erzielen will.
Clintons "State of the Union Message" ist eine
große politische Rede - in ihrem Gehalt wie in ihrer
Gestalt. Um den äußerst wahlwirksamen Vorschlag der
Republikaner, den Haushaltsüberschuss zu Steuersenkungen zu
nutzen, abzublocken, genügte es nicht, einen besseren
Vorschlag in der Sache zu machen. Dieser Vorschlag musste mit
rhetorischem Raffinement vorgebracht werden. Dazu war nicht
nur Talent, sondern Training nötig. Die richtige Idee
alleine reichte nicht aus: Ihre Inszenierung war
entscheidend. Die Politik brauchte die Pose.
Der Rede des Bundespräsidenten vom 9. November [2000 am
Brandenburger Tor in Berlin gegen Rechtsradikalismus] fehlte
jede Inszenierung. Das machte den Präsidenten sympathisch
- und die Rede wirkungslos. Auch zögern wir in der
Bundesrepublik immer noch, obwohl es das längst gegeben
haben mag, uns ein Staatsoberhaupt vorzustellen, das vor
seinen Mitarbeitern im Schloss Bellevue Pointen übt, damit
sie vor Hunderttausenden am Brandenburger Tor richtig
ankommen.
Vielleicht aber wäre dies eine politische Utopie, für
deren Verwirklichung sich Anstrengung lohnte: aufrichtig zu
sein und zugleich diese Aufrichtigkeit so überzeugend zu
spielen, dass jeder daran glaubt. Auch aus diesem Grund
würde es sich lohnen, im Bundestag wieder über die Lage der
Nation zu debattieren, was paradoxerweise seit der
Vereinigung der beiden deutschen Staaten nicht mehr
geschieht.