Ein Dilettant? Ein Genie? Man hörte auf
ihn: Jean-Jacques Rousseau. Man achtete auf seine Ideen
jedenfalls dort, wo man mit der Zeit gehen wollte. Im sogenannten
"Buffonisten-Streit", als man in Paris sich stritt wie
es weitergehen sollte mit der Oper, hatte er sich heftigst
engagiert. Sein Singspiel Le devin du village 1752), der
nachgelieferte "Beweis", dass nicht nur Götter und
Helden die Musikbühnen bevölkern müssten, wurde allüberall
nachgespielt, teilweise nachgeahmt (Mozart: Bastien et
Bastienne). Aber auch sein weiterer Versuch mit einer neuen
Gattung, dem Melodram
Pygmalion (Lyon 1770), zog die Komponisten
und Librettisten, wenigstens für gut ein Jahrzehnt, in Bann.
Deklamation mit musikalischer Untermalung -
das antike Drama wollte man damit
neu beleben. Zurück zu den Ursprüngen, lautete das Motto.
Ein Schauspieler, eine Schauspielerin spricht in emotional
gesteigerter Form einen Text über einem oder in einen
verhallenden Klang. Ein Chor als eine Art Gedankenstimme ist
die oft einzige Antwort. In
Georg Anton Bendas
zwischen Naturalismus und psychologischer
Sensibilisierung sich spannenden Versuchen mit Ariadne auf
Naxos und Medea (1775 in Gotha bzw. Leipzig)
sollten dem musikalischen Drama neue Regionen des Ausdrucks
erschlossen werden. All dies: Steinchen auf dem Weg zu einem
neuen nationalen Theater.
Auch wenn die Gattung des Melodram als eigenständige Form bald wieder
verblasste - die Technik dieses gesteigerten Sprechens
überlebte als Insel zwischen Oper und Schauspiel. Beethovens
Fidelio (Gefängnisszene), Webers Freischütz
(Wolfsschlucht) sind die berühmtesten Beispiele. In Berlioz'
Lelio findet diese Technik sich. Von Humperdinck wurde
sie noch verfeinert; in seinen Königskindern sind
Rhythmus und Tonhöhe dieser Art Sprechens genau fixiert.
Arnold Schönberg (Erwartung, Pierrot) und
Alban Berg (Wozzeck, Lulu) haben die Methode
eingesetzt. Und auch Boulez und Nono nutzen diese
musikdramatische "Erfindung" der Aufklärung.
Zu den aufgeschlossensten Fürsten dieser Epoche in Deutschland gehörte Mannheims Karl Theodor. Bildung möglichst für alle, Ausbau der Manufakturen, Entwicklung der Wissenschaften und der Künste, Förderung der deutschen Sprache und zugleich Weltoffenheit, möglichstes Heraushalten aus Konflikten und Vermeiden von Kriegen waren einige seiner Grundprinzipien.
Sein erstes bald
nach Amtsantritt (1743) begonnenes großes Projekt ist zwar
Ausbau von Schloss und Park Schwetzingen als Sommersitz. Aber
Herzstück des Mannheimers Schlosses wird die 1755
eingeweihte Hofbibliothek. Deren Lesesaal wird (ab 1763) auch
dem Publikum geöffnet. Um 1780 zählt sie schon 50.000
Bänden. Für den Ausbau der Sammlung hatte sich Karl Theodor
von Voltaire, mit dem er selbst brieflichen und persönlichen
Kontakt pflegt, einen Vertrauten empfehlen lassen.
Karl
Theodor ist früh sensibilisiert
für die Gefährdungen der Zeit. Auf den Thron des
kinderlosen Pfälzer Kurfürsten Karl Philipp wird er, früh
Halbwaise, aus einer dynastischen Nebenlinie (Sulzbach)
adoptiert. Gründlich wird er vorbereitet auf die
Regentschaft. Man schickt ihn zum Studium an die
Universitäten Leiden und Löwen. Er spricht fließend
französisch, lernt Englisch, Italienisch, Latein, bekommt
Unterricht in den antiken "artes", dazu in
Naturlehre, Mathematik, Medizin, Staatslehre,
Finanzwirtschaft. Im Flandrischen lernt er auch die
Tuchmacher- und Porzellanmanufakturen kennen.
Gerade 18jährig
muss er die Herrschaft in Mannheim (Kurpfalz, Pfalz-Neuburg,
Sulzbach) und Düsseldorf (Herzogtümer Jülich und Berg)
antreten. Die Enkelin Karl Philipps, seine vier Jahre ältere
Cousine Elisabeth Auguste, zu heiraten, gehört mit zum
"deal". Das einzige mit ihr gezeugte Kind lebt
freilich nur einen Tag. Die Sorge um das Fortbestehen der
Dynastie wird eine immerwährende Obsession im Leben dieses
Fürsten. Dafür geht er Beziehungen ein auch mit einfachen
Bürgersfrauen. Die gemeinsamen Kinder versucht er später zu
legitimieren.
Immerhin lernt er so, wie schon bei seinen Inkognito-Inspektionen quer durchs
Land nach Regierungsantritt, das Leben aus einem anderen
Blickwinkel kennen. Auch die Nachfolge ab 1778 auf dem
bayerischen Thron ist letztlich dynastisch begründet. Ein
"Hausvertrag" regelt zwar das Prozedere. Alles muss
aber neu erstritten werden gegen die Begehrlichkeiten anderer
Fürstenhäuser. Von Elisabeth Auguste hofft er sich scheiden
zu lassen, um doch noch einen legitimen Erben zu zeugen. Aber
erst nach ihrem Tod 1794 kann er noch einmal heiraten. Marie
Leopoldine, die Tochter des habsburgischen Erzherzogs
Ferdinand, wird seine zweite Frau.
Eine Bauernhochzeit à la mode wird gefeiert 1795 in Innsbruck.
Aber bald schon betrügt sie den über 70jährigen,
intrigiert gegen ihn. Ironie auch, dass Karl Theodor durch
diese Ehe - und die Bindung an das Haus Habsburg - doch
hineingezogen wurde in Kriegsallianzen, die er nie wollte.
Vieles, was er stets zu sichern bestrebt war, ging verloren
infolge der Revolution in Frankreich und der Wirren in
Deutschland. Bei seinem Tod 1799 waren die Dinge ihm längst
entglitten.
Die
Bilanz für seine Mannheimer Zeit
war gleichwohl positiv.
Die Einrichtung der Kunstakademie in Düsseldorf (1753), der Kunst-Sammlung
in Mannheim zur Bildung des "Kunstsinns und feinen Geschmacks"
der Bürger (1756), die Gründung einer Kurpfälzischen Akademie
der Wissenschaften (1763), die Geburtshilfe für eine Gesellschaft
zur Pflege der deutschen Sprache (1775) und die Errichtung des
ersten deutschen Nationaltheaters unter dem Intendanten Heribert
von Dalberg, das mit der Uraufführung von Schillers Räubern (1782)
einen ersten Markstein setzt, gehören zu den Höhepunkten.
Auch für den künstlerischen
Nachwuchs wird gesorgt. Unterrichtsklassen, geleitet von den
führenden Künstlern des Hofes, werden eingerichtet.
Elisabeth Auguste kümmert sich um den Ausbau des Balletts.
Auf den verschiedensten Gebieten bis hin zu einer
Mädchenausbildung nach Rousseau-Basedowschen Prinzipien oder
zur Krankenpflege startet der Kurfürst Initiativen. Es sind
dies alles auch Versuche, den Verfall des absoluten
Herrschertums zu bremsen, wenn nicht umzukehren. Als Reformen
von oben bleiben sie letztlich wurzellos. Dass Karl Theodor
gerade auch in seinen Reformen ein Despot war, werfen ihm
später die Illuminaten in München vor, ein freimaurerischer
Geheimorden. Über die zumal unter Johann
Stamitz zu europäischem Ruf aufgestiegene Mannheimer Hofkapelle
schrieb der englische Musikreisende Charles Burney, sie erschien
ihm "wie eine Armee von Generälen, gleich geschickt, einen
Plan zu einer Schlacht zu entwerfen als darin zu fechten".
Und Christian Friedrich Daniel Schubart notierte über die
neuartige dynamische Schattierungstechnik des Orchesters:
"Sein Forte ist ein Donner, sein Crescendo ein Katarakt,
sein Diminuendo ein in die Ferne hinplätschernder Krystallfluss,
sein Piano ein Frühlingshauch."
Karl Theodor selbst genoss, wie das große Vorbild Friedrich von Preußen, schon in
jungen Jahren Unterricht auf dem Lieblingsinstrument der
Zeit, der Flöte. Sein Orchester war berühmt für die große
Besetzung: allein die Streicher sind mit zweimal zehn
Violinen, je vier Bratschen, Celli, Kontrabässen besetzt.
Die Klarinette wird erstmals Standard-Instrument. Neuartig
auch die Disziplin in diesem Orchester: einheitliche
Bogenführung und präzise Artikulation ermöglichen scharfe
Akzentuierungen. Der Konzertmeister schlägt nicht mehr nur
den Takt, er wird zum musikalischen Gestalter.
Auf seinen Reisen nach Paris (1777/78) macht auch Mozart Station in Mannheim, wird vom neuen Konzertmeister Johann Christian Cannabich in die Geheimnisse des Mannheimer Orchesterstils eingeweiht mit seinen weiten Bögen, großen Sprüngen und scharfen sforzato-Akzentuierungen. Ein Melodram nach Art der Bendaschen Ariadne und Medea wird Mozart zu komponieren angetragen. Aber die dafür begonnene Semiramis gedeiht nicht weit. Erst zu Karneval 1781 entsteht dann der Idomeneo für den mittlerweile nach München umgezogenen Hof.
Ein
aus der Antike entlehntes Sujet zwar auch dies, aber traditionell
als opera seria in Italienisch, wie das in München noch Pflicht ist. In
Mannheim erprobte man schon sich an einer neuen deutschen
Oper. Karl Theodors Sprachpfleger, der Jesuit Anton Klein,
und sein Kapellmeister Ignaz Holzbauer versuchten die mit der
Seria-Oper Günter von Schwarzenburg. Ein Sujet aus
dem späten Mittelalter um einen Thüringischen Grafen, der
mithilfe der Wittelsbacher deutscher Kaiser werden sollte,
wurde hier vertont und 1777 uraufgeführt.
Vorbild war eine 1773 in Weimar erstmals gezeigte Alkeste; das Libretto
dafür stammte von Christoph Martin Wieland, die Musik von
Anton Schweitzer. Aber immer wieder auch wurden französische
Singspiele eingedeutscht - das gleiche Repertoire, aus dem
auch Weber später seinen Freischütz wachsen lässt.
Ungewöhnlich in jener Zeit. Ansonsten galt an Hoftheatern
noch das unumstößliche Gesetz, dass Deutsch keine fürs
Theater taugliche Sprache sei.
Die beiden Einakte Elektra - eine musikalische Deklamation von Johann Christian Cannabich (Mannheim 1780) und Ignaz Holzbauers Der Tod der Dido [La morte di Didone] (Mannheim 1779) raffen die antiken Geschichten auf einen letzten Moment der Entscheidung. In beiden Einaktern spürt man etwas von der inneren Unruhe und Umbruchstimmung der Zeit.
Wie wird es Elektra gelingen, den Mord am Vater Agamemnon zu rächen? Der aber hat doch selbst Schuld auf sich geladen, als er Iphigenie opferte, um in den Krieg segeln zu können nach Troja. Elektra zögert und zaudert, sie gräbt nach ihren Erinnerungen - und dann nimmt ihr ein anderer die Entscheidung ab. Wie andererseits wird es Dido verwinden, selbst einmal geflüchtet aus ihrer kleinasiatischen Heimat Sidon westwärts an die Küste Afrikas, dass ihr Geliebter Aeneas sie so schmählich im Stich lässt? Karthago war also doch nur die Zwischenstation auf dem Weg von Troja nach Rom. Und Aeneas hat sie auch noch betrogen mit ihrer Schwester Selene! Alles will Dido da mit sich reißen. Sie will nur noch das Ende. Und auch ihr Gegenspieler Jarbas, dem sie durch geschicktes Zerschneiden der Stier-Haut ein größeres Stück Land abgeluchst hat, als der ihr ursprünglich überlassen wollte, fühlt sich betrogen. Er will sein Afrika wieder ausländerfrei, ethnisch gesäubert. Zurück zu den Ursprüngen!
Holzbauers Dido (nach einem von Sprachpfleger Anton Klein bearbeiteten Libretto des meist vertonten Librettisten des Jahrhunderts, Pietro Metastasio) ist dabei das auch formal gewiss "konventionellere" Stück. Arien, Duette, Chöre, recitativi secchi und recitativi accompagnati bilden das musikalische Korsett. Schon die Ouvertüre mit ihren punktierten Grave-Akkorden in As-Dur verweist auf das heroische Ende einer Herrscherin.
Dido hat den Göttern geflucht, um ihre Enttäuschung
abzureagieren. Die Stadt, die ihr und anderen Zuflucht war,
steht in Flammen, entzündet von Jarbas' Mannen. Der will nun
selber alle Erinnerung auslöschen an diese Frau, der er
Zuflucht gewährte, die sich ihm verweigerte und auf einen
anderen, Aeneas, hoffte. Die Stadt soll nun ihr Feuergrab
werden, ein Schutthaufen dem Erboden gleich. Aber Dido ist
stolz. Aus freiem Willen und bewusst geht sie in den
Flammentod.
Das brennende Karthago illuminiert fast von Anfang an (Nr.4) die Szene. In einer Art
"Mauerbericht" erfährt man davon, wie auch von des
Aeneas plötzlicher Abreise. Ausgerechnet Selene, die
insgeheim mit Aeneas ein Verhältnis hatte, bestätigt Dido,
was die Königin längst spürt: etwas geht zu Ende. Selene
(im Lateinischen der Begriff für Mond als das Ursymbol
weiblicher Liebe; in der mythischen Erzählung trägt diese
Schwester übrigens den Namen der "Urmutter" Anna)
- Selene versucht immer wieder, Dido von ihren Rachegelüsten
abzubringen, sie dem Leben zuzuwenden.
Musikalisch wird sie bei ihrem
ersten Auftritt (Nr.3) gezeichnet in einem wiegenden
Rhythmus. Ihre Arie (Nr.5), mit Begleitung der obertonarmen
Flöten dazu gedämpften Streichern, hat etwas Pastorales,
erinnert mit ihren Echo-Wirkungen auch an Glucks Orpheus-Gang
in die Unterwelt. Aber gerade in dieser Arie mit der
"Sturm"-Metaphorik im zweiten Teil spitzt sich
Selenes Empfindung für die Situation (fast im wörtlichen
Sinn) dramatisch zu. Und doch kann sie (Cavata Nr.6) Dido
für einen Moment noch einmal dazu bringen, sich zu öffnen,
auch wenn dann Jarbas' Mannen (Chor Nr.7) das Ausbrennen
aller Fremden drohend und johlend fordern.
Auch zwischen Jarbas und Dido
kommt es noch zu einer kurzen Begegnung (Nr.8). Er verspottet
sie. Die brennende Stadt bietet er ihr als Hochzeitsfackel
an. Dido ist für einen Moment bereit sich auszuliefern.
Tiefer nämlich schmerzt sie der Verrat des Aeneas. Um ihn
weint sie. Aber dass Jarbas ihr nun wieder Thron und Bett
anbietet, das empört sie denn doch. Nein - die Gattin eines
blutdürstigen Wüterichs will sie nicht sein. Und Jarbas hat
in seiner musikalischen Zeichnung etwas Archaisches. Seine
Arie (Nr.9) in d-moll mit den charakteristischen
Herrscherinstrumenten (Pauken, Trompeten, Hörner), mit den
bedrohlich wirkenden Punktierungen in den Bässen und
Sprüngen über die Oktave hinaus erinnert an die großen
Rache-Arien der opera seria. Der Chor bestätigt
bekräftigend die Losung seines Herren: alles ausbrennen,
Götterdämmerung.
Das Geständnis Selenes, dass auch sie an Aeneas
"dran" war - es trifft Dido in dem Moment (Nr.10),
als sie nach der Abrechnung mit Jarbas nun auch gerade mit
Aeneas klarschiff machen wollte. In Holzbauers Musik hört
man förmlich, wie die Flammen am Scheiterhaufen hochzüngeln.
Ohnehin erreicht Didos Racheschwur den Aeneas
nicht mehr. Er ist längst hinterm Horizont verschwunden.
Aber Dido brauchte den Racheschwur, um sich selber Mut zu
machen. Gespürt hat sie es längst, dass ihr da etwas
entglitt. Sie wollte es nicht wahrhaben, versuchte das
nahende Ende zu verdrängen.
Das in seiner Dramaturgie zweifellos ungewöhnlichere, auch heiklere Stück von beiden Einaktern ist Cannabichs Elektra (nach einem Libretto des Intendanten, Oberappellationsgerichts-Präsidenten und Dichters Heribert von Dalberg). Als eine Art innerer Monolog lässt sich das Melodram zunächst an. Elektra hält Zwiesprache mit sich selbst; mit dem getöteten Vater Agamemnon; mit der Mutter, deren blutige Hand sie auch schon nach dem neuen Liebhaber Aegisth ausstrecken sieht; mit dem Bruder Orest, der ihr nicht zu Hilfe kommt; mit den Furien, die das in ihren Augen "sündige" Treiben der Mutter in schwarzes Licht tauchen oder gleich das Brautbett verbrennen sollen; mit den Göttern, die scheinbar nur stumm und gleichgültig zusehen.
Aber warum zögert sie immer
noch selbst zu handeln? Von fern hört man Märsche. Hochzeit
soll heute gefeiert werden fürs neue Paar. Und Elektra soll
mitfeiern, die Bluttat legitimieren. Aber Elektra flieht in
ihre Erinnerungen, in ihre Jugendzeit. Der Vater lebte da
noch, alles schien in diesem friedlichen Garten der
Erinnerung mit den plätschernden Bächlein in Ordnung. Jetzt
ist das Rinnsal des Baches dünn und trüb. Geisterstimmen
hört sie wie Hamlet, ein Horn tönt. Es gemahnt an des
Vaters Blut, das Blut das auch in ihren Adern fließt -
wichtig in Zeiten, da man fragt nach der Natur, nach
natürlicher Legitimierung. Sie muss handeln. Sie muss den
Vater rächen. Muss sie?
Mehr als ein Drittel der
Partitur beansprucht das Grübeln über diese Frage in dieser
ersten Szene. Aber dass die Asche des Bruders ihr überbracht
wird (2.Szene), veranlasst sie noch immer nicht zu handeln,
es schärft vielmehr die Erinnerung. Und da sind ja auch
diese geheimnisvoll düster wispernden Stimmen, die ihr
suggerieren, dass der Bruder doch nicht fern ist. Wie durch
eine friedlich-amoene Toten-Landschaft scheint sie zu
schweben. Chiron, die Freundin, beschwört sie, doch an die
Götter sich zu wenden; sie würden verzeihen. Aber sie hat
sich auf bohrende, alles niederreißende Rache festgelegt.
(3.Szene)
Sie geht in den Tempel, um
auch die Götter zur Rache zu zwingen. Aber immer wieder muss
sie sich selbst aufpumpen: die Furien sollen sie aufladen mit
dem Gift des Todes. Und immer wieder von fern als
drogenartiges Stimulans die hochzeitlich triumphierende
Marschmusik! Die Tonart der Rachemusik vom Anfang (c-moll)
kippt in ein strahlendes Es-Dur (Paralleltonart). Elektra ist
nun der Richtigkeit ihres Handels gewiss.
Aber da hört sie schon das
winselnde Flehen der Mutter. Ein anderer hat zugeschlagen,
das Gesetz des Handelns ist Elektra entglitten. Sie schwankt
zwischen Erleichterung - sie musste nicht selbst die
Mutter morden - und neuen Schuldgefühlen: es ist ihre
Mutter, die da starb. Und dass sie Aegisth sich hingegeben
hat, während Agamemnon in die Ferne schweifte zum
Kriegspielen um der fadenscheinigen Helena willen - wiegt das
nicht doch vielleicht weniger schwer? (4.Szene)
Die Schlussszene (Nr.5) bestätigt
noch einmal Elektras Selbstzweifel. Der wieder aufgetauchte
Bruder Orest hat zwar die Pflicht erfüllt, dem atavistischen
Gesetz der Blutrache genüge getan. Aber auch er verkraftet es
kaum. Auch in ihm stiegen die ersten in heftigen Modulationen
wühlenden Zweifel auf: ja, es war eine "schreckliche"
Tat. Und Elektra wünscht, dass das Zentralgestirn Sonne sich
verhüllen möge.
Königskinder mit Blut an den
Händen, ahnt sie, haben ihr Lebensrecht verwirkt. Sie kommen
nie mehr zusammen. Der Mord entzweit auch sie. Mit zum Vater
möchte sie ins Reich der Schatten. Sie beide fühlen: Rache
löst nichts, führt zu nichts, pflanzt neues Unrecht. Das
Stück endet wie es begann.
Wie
das heute inszenieren? "Historisierend" gewiss
nicht. Wir "wissen" heute, was die Rächer der
Menschheit in den Revolutionen auch an Drachenzähnen neu gesät
haben: die Fouché und Robespierre in Frankreich, die Lenin und
Stalin in der Sowjetunion. Wir kennen das Morden der Nazis für
"Lebensraum", das Wüten der Pol Pot gegen grübelnde,
zögerliche "Intellektuelle", das Marodieren der
ethnischen Säuberer auf dem Balkan gegen die jeweils andere
Kultur. Und Brandfackeln in fremden Stuben - das haben wir noch
jüngst und sehr viel näher erlebt.
Aber auch ein anderer Aspekt hier
zählt: die Ablösung zweier Kulturen, vom Matriarchat zum
Patriarchat. Bis zuletzt beharren die Titelfiguren beider Stücke
auf ihren Gefühlen. Trotz aller Zweifel. Das macht sie stark,
und zeigt sie doch auch verletzlich. Didos Selbsttötung ist ein
"appellativer Selbstmord", ein Hilferuf, der ungehört
verhallt. Der, den sie "bestrafen" will, ist längst
verschwunden. Nur "die Geschichte" liefert ihr
vielleicht noch Echos: soll sie gehen, soll sie bleiben, und wenn
sie stirbt - wer weint ihr noch eine Träne nach?
Auch Elektra bleibt sich
"treu". Konsequent verfolgt sie das vermeintliche
"Unrecht" - und wird in ihren Racheglüsten zum
"Mann". Aber hat sie am Ende damit etwas gewonnen? Auch
sie muss abtreten von der Bühne, nicht nur die Mutter, die sich
über den abwesenden Gatten hinwegzutrösten versuchte mit einem
neuen Mann, einer neuen Liebe. Elektra hat diese Liebe nie
erfahren und wird sie wohl nie erfahren. Ein armes Leben.
Das Zögern, die Selbstzweifel -
sie sind die Stimmen dieses Lebens. Sie wachsen von unten, bei Elektra
sogar aus dem Reich der Toten. Die Entschleierung der Wahrheit
durch die Zeit ist der Titel des Decken-Gemäldes (Antonio
Albuzzi/Lambert Krahe), das die Hofbibliothek Karl Theodors
zierte. Ein Menetekel der Aufklärung. Das nicht gelebte Leben -
es darf uns nicht überwältigen.