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Gelebtes und nicht gelebtes Leben

Elektra und Dido

Zwei Einakter der "Mannheimer Schule"

Premiere im Theater Schwetzingen, 7. Nov. 1999
Musik.Leitung: Frieder Bernius, Ausstattung: Johannes Conen
MelodramKarl Theodor | Mannheimer Zeit | Die beiden Einakter | Dido |  Elektra | Inszenierung

Auftritt der Elektra (Martina Roth)Ein Dilettant? Ein Genie? Man hörte auf ihn: Jean-Jacques Rousseau. Man achtete auf seine Ideen jedenfalls dort, wo man mit der Zeit gehen wollte. Im sogenannten "Buffonisten-Streit", als man in Paris sich stritt wie es weitergehen sollte mit der Oper, hatte er sich heftigst engagiert. Sein Singspiel Le devin du village 1752), der nachgelieferte "Beweis", dass nicht nur Götter und Helden die Musikbühnen bevölkern müssten, wurde allüberall nachgespielt, teilweise nachgeahmt (Mozart: Bastien et Bastienne). Aber auch sein weiterer Versuch mit einer neuen Gattung, dem Melodram Pygmalion (Lyon 1770), zog die Komponisten und Librettisten, wenigstens für gut ein Jahrzehnt, in Bann.

Deklamation mit musikalischer Untermalung - das antike Drama wollte man damit neu beleben. Zurück zu den Ursprüngen, lautete das Motto. Ein Schauspieler, eine Schauspielerin spricht in emotional gesteigerter Form einen Text über einem oder in einen verhallenden Klang. Ein Chor als eine Art Gedankenstimme ist die oft einzige Antwort. In Georg Anton Bendas zwischen Naturalismus und psychologischer Sensibilisierung sich spannenden Versuchen mit Ariadne auf Naxos und Medea (1775 in Gotha bzw. Leipzig) sollten dem musikalischen Drama neue Regionen des Ausdrucks erschlossen werden. All dies: Steinchen auf dem Weg zu einem neuen nationalen Theater.
Auch wenn die Gattung des Melodram als eigenständige Form bald wieder verblasste - die Technik dieses gesteigerten Sprechens überlebte als Insel zwischen Oper und Schauspiel. Beethovens Fidelio (Gefängnisszene), Webers Freischütz (Wolfsschlucht) sind die berühmtesten Beispiele. In Berlioz' Lelio findet diese Technik sich. Von Humperdinck wurde sie noch verfeinert; in seinen Königskindern sind Rhythmus und Tonhöhe dieser Art Sprechens genau fixiert. Arnold Schönberg (Erwartung, Pierrot) und Alban Berg (Wozzeck, Lulu) haben die Methode eingesetzt. Und auch Boulez und Nono nutzen diese musikdramatische "Erfindung" der Aufklärung.

Zu den aufgeschlossensten Fürsten dieser Epoche in Deutschland gehörte Mannheims Karl Theodor. Bildung möglichst für alle, Ausbau der Manufakturen, Entwicklung der Wissenschaften und der Künste, Förderung der deutschen Sprache und zugleich Weltoffenheit, möglichstes Heraushalten aus Konflikten und Vermeiden von Kriegen waren einige seiner Grundprinzipien.

Sein erstes bald nach Amtsantritt (1743) begonnenes großes Projekt ist zwar Ausbau von Schloss und Park Schwetzingen als Sommersitz. Aber Herzstück des Mannheimers Schlosses wird die 1755 eingeweihte Hofbibliothek. Deren Lesesaal wird (ab 1763) auch dem Publikum geöffnet. Um 1780 zählt sie schon 50.000 Bänden. Für den Ausbau der Sammlung hatte sich Karl Theodor von Voltaire, mit dem er selbst brieflichen und persönlichen Kontakt pflegt, einen Vertrauten empfehlen lassen.
aus "Elektra"Karl Theodor ist früh sensibilisiert für die Gefährdungen der Zeit. Auf den Thron des kinderlosen Pfälzer Kurfürsten Karl Philipp wird er, früh Halbwaise, aus einer dynastischen Nebenlinie (Sulzbach) adoptiert. Gründlich wird er vorbereitet auf die Regentschaft. Man schickt ihn zum Studium an die Universitäten Leiden und Löwen. Er spricht fließend französisch, lernt Englisch, Italienisch, Latein, bekommt Unterricht in den antiken "artes", dazu in Naturlehre, Mathematik, Medizin, Staatslehre, Finanzwirtschaft. Im Flandrischen lernt er auch die Tuchmacher- und Porzellanmanufakturen kennen.
Gerade 18jährig muss er die Herrschaft in Mannheim (Kurpfalz, Pfalz-Neuburg, Sulzbach) und Düsseldorf (Herzogtümer Jülich und Berg) antreten. Die Enkelin Karl Philipps, seine vier Jahre ältere Cousine Elisabeth Auguste, zu heiraten, gehört mit zum "deal". Das einzige mit ihr gezeugte Kind lebt freilich nur einen Tag. Die Sorge um das Fortbestehen der Dynastie wird eine immerwährende Obsession im Leben dieses Fürsten. Dafür geht er Beziehungen ein auch mit einfachen Bürgersfrauen. Die gemeinsamen Kinder versucht er später zu legitimieren.
Immerhin lernt er so, wie schon bei seinen Inkognito-Inspektionen quer durchs Land nach Regierungsantritt, das Leben aus einem anderen Blickwinkel kennen. Auch die Nachfolge ab 1778 auf dem bayerischen Thron ist letztlich dynastisch begründet. Ein "Hausvertrag" regelt zwar das Prozedere. Alles muss aber neu erstritten werden gegen die Begehrlichkeiten anderer Fürstenhäuser. Von Elisabeth Auguste hofft er sich scheiden zu lassen, um doch noch einen legitimen Erben zu zeugen. Aber erst nach ihrem Tod 1794 kann er noch einmal heiraten. Marie Leopoldine, die Tochter des habsburgischen Erzherzogs Ferdinand, wird seine zweite Frau.
Eine Bauernhochzeit à la mode wird gefeiert 1795 in Innsbruck. Aber bald schon betrügt sie den über 70jährigen, intrigiert gegen ihn. Ironie auch, dass Karl Theodor durch diese Ehe - und die Bindung an das Haus Habsburg - doch hineingezogen wurde in Kriegsallianzen, die er nie wollte. Vieles, was er stets zu sichern bestrebt war, ging verloren infolge der Revolution in Frankreich und der Wirren in Deutschland. Bei seinem Tod 1799 waren die Dinge ihm längst entglitten.

aus "Elektra"Die Bilanz für seine Mannheimer Zeit war gleichwohl positiv. Die Einrichtung der Kunstakademie in Düsseldorf (1753), der Kunst-Sammlung in Mannheim zur Bildung des "Kunstsinns und feinen Geschmacks" der Bürger (1756), die Gründung einer Kurpfälzischen Akademie der Wissenschaften (1763), die Geburtshilfe für eine Gesellschaft zur Pflege der deutschen Sprache (1775) und die Errichtung des ersten deutschen Nationaltheaters unter dem Intendanten Heribert von Dalberg, das mit der Uraufführung von Schillers Räubern (1782) einen ersten Markstein setzt, gehören zu den Höhepunkten.

Auch für den künstlerischen Nachwuchs wird gesorgt. Unterrichtsklassen, geleitet von den führenden Künstlern des Hofes, werden eingerichtet. Elisabeth Auguste kümmert sich um den Ausbau des Balletts. Auf den verschiedensten Gebieten bis hin zu einer Mädchenausbildung nach Rousseau-Basedowschen Prinzipien oder zur Krankenpflege startet der Kurfürst Initiativen. Es sind dies alles auch Versuche, den Verfall des absoluten Herrschertums zu bremsen, wenn nicht umzukehren. Als Reformen von oben bleiben sie letztlich wurzellos. Dass Karl Theodor gerade auch in seinen Reformen ein Despot war, werfen ihm später die Illuminaten in München vor, ein freimaurerischer Geheimorden. Über die zumal unter Johann Stamitz zu europäischem Ruf aufgestiegene Mannheimer Hofkapelle schrieb der englische Musikreisende Charles Burney, sie erschien ihm "wie eine Armee von Generälen, gleich geschickt, einen Plan zu einer Schlacht zu entwerfen als darin zu fechten". Und Christian Friedrich Daniel Schubart notierte über die neuartige dynamische Schattierungstechnik des Orchesters: "Sein Forte ist ein Donner, sein Crescendo ein Katarakt, sein Diminuendo ein in die Ferne hinplätschernder Krystallfluss, sein Piano ein Frühlingshauch."
Karl Theodor selbst genoss, wie das große Vorbild Friedrich von Preußen, schon in jungen Jahren Unterricht auf dem Lieblingsinstrument der Zeit, der Flöte. Sein Orchester war berühmt für die große Besetzung: allein die Streicher sind mit zweimal zehn Violinen, je vier Bratschen, Celli, Kontrabässen besetzt. Die Klarinette wird erstmals Standard-Instrument. Neuartig auch die Disziplin in diesem Orchester: einheitliche Bogenführung und präzise Artikulation ermöglichen scharfe Akzentuierungen. Der Konzertmeister schlägt nicht mehr nur den Takt, er wird zum musikalischen Gestalter.

Auf seinen Reisen nach Paris (1777/78) macht auch Mozart Station in Mannheim, wird vom neuen Konzertmeister Johann Christian Cannabich in die Geheimnisse des Mannheimer Orchesterstils eingeweiht mit seinen weiten Bögen, großen Sprüngen und scharfen sforzato-Akzentuierungen. Ein Melodram nach Art der Bendaschen Ariadne und Medea wird Mozart zu komponieren angetragen. Aber die dafür begonnene Semiramis gedeiht nicht weit. Erst zu Karneval 1781 entsteht dann der Idomeneo für den mittlerweile nach München umgezogenen Hof.

aus "Elektra"Ein aus der Antike entlehntes Sujet zwar auch dies, aber traditionell als opera seria in Italienisch, wie das in München noch Pflicht ist. In Mannheim erprobte man schon sich an einer neuen deutschen Oper. Karl Theodors Sprachpfleger, der Jesuit Anton Klein, und sein Kapellmeister Ignaz Holzbauer versuchten die mit der Seria-Oper Günter von Schwarzenburg. Ein Sujet aus dem späten Mittelalter um einen Thüringischen Grafen, der mithilfe der Wittelsbacher deutscher Kaiser werden sollte, wurde hier vertont und 1777 uraufgeführt.
Vorbild war eine 1773 in Weimar erstmals gezeigte Alkeste; das Libretto dafür stammte von Christoph Martin Wieland, die Musik von Anton Schweitzer. Aber immer wieder auch wurden französische Singspiele eingedeutscht - das gleiche Repertoire, aus dem auch Weber später seinen Freischütz wachsen lässt. Ungewöhnlich in jener Zeit. Ansonsten galt an Hoftheatern noch das unumstößliche Gesetz, dass Deutsch keine fürs Theater taugliche Sprache sei.

Die beiden Einakte Elektra - eine musikalische Deklamation von Johann Christian Cannabich (Mannheim 1780) und Ignaz Holzbauers Der Tod der Dido [La morte di Didone] (Mannheim 1779) raffen die antiken Geschichten auf einen letzten Moment der Entscheidung. In beiden Einaktern spürt man etwas von der inneren Unruhe und Umbruchstimmung der Zeit.

Wie wird es Elektra gelingen, den Mord am Vater Agamemnon zu rächen? Der aber hat doch selbst Schuld auf sich geladen, als er Iphigenie opferte, um in den Krieg segeln zu können nach Troja. Elektra zögert und zaudert, sie gräbt nach ihren Erinnerungen - und dann nimmt ihr ein anderer die Entscheidung ab. Wie andererseits wird es Dido verwinden, selbst einmal geflüchtet aus ihrer kleinasiatischen Heimat Sidon westwärts an die Küste Afrikas, dass ihr Geliebter Aeneas sie so schmählich im Stich lässt? Karthago war also doch nur die Zwischenstation auf dem Weg von Troja nach Rom. Und Aeneas hat sie auch noch betrogen mit ihrer Schwester Selene! Alles will Dido da mit sich reißen. Sie will nur noch das Ende. Und auch ihr Gegenspieler Jarbas, dem sie durch geschicktes Zerschneiden der Stier-Haut ein größeres Stück Land abgeluchst hat, als der ihr ursprünglich überlassen wollte, fühlt sich betrogen. Er will sein Afrika wieder ausländerfrei, ethnisch gesäubert. Zurück zu den Ursprüngen!

Holzbauers Dido (nach einem von Sprachpfleger Anton Klein bearbeiteten Libretto des meist vertonten Librettisten des Jahrhunderts, Pietro Metastasio) ist dabei das auch formal gewiss "konventionellere" Stück. Arien, Duette, Chöre, recitativi secchi und recitativi accompagnati bilden das musikalische Korsett. Schon die Ouvertüre mit ihren punktierten Grave-Akkorden in As-Dur verweist auf das heroische Ende einer Herrscherin.

aus "Dido": Nicola Beller-CarboneDido hat den Göttern geflucht, um ihre Enttäuschung abzureagieren. Die Stadt, die ihr und anderen Zuflucht war, steht in Flammen, entzündet von Jarbas' Mannen. Der will nun selber alle Erinnerung auslöschen an diese Frau, der er Zuflucht gewährte, die sich ihm verweigerte und auf einen anderen, Aeneas, hoffte. Die Stadt soll nun ihr Feuergrab werden, ein Schutthaufen dem Erboden gleich. Aber Dido ist stolz. Aus freiem Willen und bewusst geht sie in den Flammentod.
Das brennende Karthago illuminiert fast von Anfang an (Nr.4) die Szene. In einer Art "Mauerbericht" erfährt man davon, wie auch von des Aeneas plötzlicher Abreise. Ausgerechnet Selene, die insgeheim mit Aeneas ein Verhältnis hatte, bestätigt Dido, was die Königin längst spürt: etwas geht zu Ende. Selene (im Lateinischen der Begriff für Mond als das Ursymbol weiblicher Liebe; in der mythischen Erzählung trägt diese Schwester übrigens den Namen der "Urmutter" Anna) - Selene versucht immer wieder, Dido von ihren Rachegelüsten abzubringen, sie dem Leben zuzuwenden.
Musikalisch wird sie bei ihrem ersten Auftritt (Nr.3) gezeichnet in einem wiegenden Rhythmus. Ihre Arie (Nr.5), mit Begleitung der obertonarmen Flöten dazu gedämpften Streichern, hat etwas Pastorales, erinnert mit ihren Echo-Wirkungen auch an Glucks Orpheus-Gang in die Unterwelt. Aber gerade in dieser Arie mit der "Sturm"-Metaphorik im zweiten Teil spitzt sich Selenes Empfindung für die Situation (fast im wörtlichen Sinn) dramatisch zu. Und doch kann sie (Cavata Nr.6) Dido für einen Moment noch einmal dazu bringen, sich zu öffnen, auch wenn dann Jarbas' Mannen (Chor Nr.7) das Ausbrennen aller Fremden drohend und johlend fordern.
Auch zwischen Jarbas und Dido kommt es noch zu einer kurzen Begegnung (Nr.8). Er verspottet sie. Die brennende Stadt bietet er ihr als Hochzeitsfackel an. Dido ist für einen Moment bereit sich auszuliefern. Tiefer nämlich schmerzt sie der Verrat des Aeneas. Um ihn weint sie. Aber dass Jarbas ihr nun wieder Thron und Bett anbietet, das empört sie denn doch. Nein - die Gattin eines blutdürstigen Wüterichs will sie nicht sein. Und Jarbas hat in seiner musikalischen Zeichnung etwas Archaisches. Seine Arie (Nr.9) in d-moll mit den charakteristischen Herrscherinstrumenten (Pauken, Trompeten, Hörner), mit den bedrohlich wirkenden Punktierungen in den Bässen und Sprüngen über die Oktave hinaus erinnert an die großen Rache-Arien der opera seria. Der Chor bestätigt bekräftigend die Losung seines Herren: alles ausbrennen, Götterdämmerung.
aus "Dido": Nicola Beller-CarboneDas Geständnis Selenes, dass auch sie an Aeneas "dran" war - es trifft Dido in dem Moment (Nr.10), als sie nach der Abrechnung mit Jarbas nun auch gerade mit Aeneas klarschiff machen wollte. In Holzbauers Musik hört man förmlich, wie die Flammen am Scheiterhaufen hochzüngeln. Ohnehin erreicht Didos Racheschwur den Aeneas nicht mehr. Er ist längst hinterm Horizont verschwunden. Aber Dido brauchte den Racheschwur, um sich selber Mut zu machen. Gespürt hat sie es längst, dass ihr da etwas entglitt. Sie wollte es nicht wahrhaben, versuchte das nahende Ende zu verdrängen.

Das in seiner Dramaturgie zweifellos ungewöhnlichere, auch heiklere Stück von beiden Einaktern ist Cannabichs Elektra (nach einem Libretto des Intendanten, Oberappellationsgerichts-Präsidenten und Dichters Heribert von Dalberg). Als eine Art innerer Monolog lässt sich das Melodram zunächst an. Elektra hält Zwiesprache mit sich selbst; mit dem getöteten Vater Agamemnon; mit der Mutter, deren blutige Hand sie auch schon nach dem neuen Liebhaber Aegisth ausstrecken sieht; mit dem Bruder Orest, der ihr nicht zu Hilfe kommt; mit den Furien, die das in ihren Augen "sündige" Treiben der Mutter in schwarzes Licht tauchen oder gleich das Brautbett verbrennen sollen; mit den Göttern, die scheinbar nur stumm und gleichgültig zusehen.

Aber warum zögert sie immer noch selbst zu handeln? Von fern hört man Märsche. Hochzeit soll heute gefeiert werden fürs neue Paar. Und Elektra soll mitfeiern, die Bluttat legitimieren. Aber Elektra flieht in ihre Erinnerungen, in ihre Jugendzeit. Der Vater lebte da noch, alles schien in diesem friedlichen Garten der Erinnerung mit den plätschernden Bächlein in Ordnung. Jetzt ist das Rinnsal des Baches dünn und trüb. Geisterstimmen hört sie wie Hamlet, ein Horn tönt. Es gemahnt an des Vaters Blut, das Blut das auch in ihren Adern fließt - wichtig in Zeiten, da man fragt nach der Natur, nach natürlicher Legitimierung. Sie muss handeln. Sie muss den Vater rächen. Muss sie?
Mehr als ein Drittel der Partitur beansprucht das Grübeln über diese Frage in dieser ersten Szene. Aber dass die Asche des Bruders ihr überbracht wird (2.Szene), veranlasst sie noch immer nicht zu handeln, es schärft vielmehr die Erinnerung. Und da sind ja auch diese geheimnisvoll düster wispernden Stimmen, die ihr suggerieren, dass der Bruder doch nicht fern ist. Wie durch eine friedlich-amoene Toten-Landschaft scheint sie zu schweben. Chiron, die Freundin, beschwört sie, doch an die Götter sich zu wenden; sie würden verzeihen. Aber sie hat sich auf bohrende, alles niederreißende Rache festgelegt. (3.Szene)
Sie geht in den Tempel, um auch die Götter zur Rache zu zwingen. Aber immer wieder muss sie sich selbst aufpumpen: die Furien sollen sie aufladen mit dem Gift des Todes. Und immer wieder von fern als drogenartiges Stimulans die hochzeitlich triumphierende Marschmusik! Die Tonart der Rachemusik vom Anfang (c-moll) kippt in ein strahlendes Es-Dur (Paralleltonart). Elektra ist nun der Richtigkeit ihres Handels gewiss.
Aber da hört sie schon das winselnde Flehen der Mutter. Ein anderer hat zugeschlagen, das Gesetz des Handelns ist Elektra entglitten. Sie schwankt zwischen Erleichterung - sie musste nicht selbst die Mutter morden - und neuen Schuldgefühlen: es ist ihre Mutter, die da starb. Und dass sie Aegisth sich hingegeben hat, während Agamemnon in die Ferne schweifte zum Kriegspielen um der fadenscheinigen Helena willen - wiegt das nicht doch vielleicht weniger schwer? (4.Szene)
Die Schlussszene (Nr.5) bestätigt noch einmal Elektras Selbstzweifel. Der wieder aufgetauchte Bruder Orest hat zwar die Pflicht erfüllt, dem atavistischen Gesetz der Blutrache genüge getan. Aber auch er verkraftet es kaum. Auch in ihm stiegen die ersten in heftigen Modulationen wühlenden Zweifel auf: ja, es war eine "schreckliche" Tat. Und Elektra wünscht, dass das Zentralgestirn Sonne sich verhüllen möge.
Königskinder mit Blut an den Händen, ahnt sie, haben ihr Lebensrecht verwirkt. Sie kommen nie mehr zusammen. Der Mord entzweit auch sie. Mit zum Vater möchte sie ins Reich der Schatten. Sie beide fühlen: Rache löst nichts, führt zu nichts, pflanzt neues Unrecht. Das Stück endet wie es begann.

ELEKTRA: Orest mordet die Mutter, mit Martina RothWie das heute inszenieren? "Historisierend" gewiss nicht. Wir "wissen" heute, was die Rächer der Menschheit in den Revolutionen auch an Drachenzähnen neu gesät haben: die Fouché und Robespierre in Frankreich, die Lenin und Stalin in der Sowjetunion. Wir kennen das Morden der Nazis für "Lebensraum", das Wüten der Pol Pot gegen grübelnde, zögerliche "Intellektuelle", das Marodieren der ethnischen Säuberer auf dem Balkan gegen die jeweils andere Kultur. Und Brandfackeln in fremden Stuben - das haben wir noch jüngst und sehr viel näher erlebt.

Aber auch ein anderer Aspekt hier zählt: die Ablösung zweier Kulturen, vom Matriarchat zum Patriarchat. Bis zuletzt beharren die Titelfiguren beider Stücke auf ihren Gefühlen. Trotz aller Zweifel. Das macht sie stark, und zeigt sie doch auch verletzlich. Didos Selbsttötung ist ein "appellativer Selbstmord", ein Hilferuf, der ungehört verhallt. Der, den sie "bestrafen" will, ist längst verschwunden. Nur "die Geschichte" liefert ihr vielleicht noch Echos: soll sie gehen, soll sie bleiben, und wenn sie stirbt - wer weint ihr noch eine Träne nach?
Auch Elektra bleibt sich "treu". Konsequent verfolgt sie das vermeintliche "Unrecht" - und wird in ihren Racheglüsten zum "Mann". Aber hat sie am Ende damit etwas gewonnen? Auch sie muss abtreten von der Bühne, nicht nur die Mutter, die sich über den abwesenden Gatten hinwegzutrösten versuchte mit einem neuen Mann, einer neuen Liebe. Elektra hat diese Liebe nie erfahren und wird sie wohl nie erfahren. Ein armes Leben.
Das Zögern, die Selbstzweifel - sie sind die Stimmen dieses Lebens. Sie wachsen von unten, bei Elektra sogar aus dem Reich der Toten. Die Entschleierung der Wahrheit durch die Zeit ist der Titel des Decken-Gemäldes (Antonio Albuzzi/Lambert Krahe), das die Hofbibliothek Karl Theodors zierte. Ein Menetekel der Aufklärung. Das nicht gelebte Leben - es darf uns nicht überwältigen.

gfk
Die Zeitschrift opernwelt widmete in ihrem Heft 3 (2003)
einen umfangreichen Artikel dem Thema 'Karl Theodor'.

Bei den Schwetzinger Festspielen 2003 erlebte die Oper
Il figlio delle selve von Ignaz Holzbauer aus Anlass
des 250.Jahrestags der Eröffnung des Rokoko-Theaters
einen Neuversuch
Weiterführende Links zu:
Uni-Bibliothek Heidelberg, Akademie der Wissenschaften