Wer ist Don Giovanni, was ist er für ein Typ? Ein Freibeuter der Liebe, ein Anarchist, der Vertreter einer dem Untergang geweihten Gesellschaft-Schicht, der jetzt Amok läuft?
Man kann ihn nicht so festlegen auf eine Linie. Er ist ein Archetyp der Natur in uns, die nie genug hat, in die Unendlichkeit will. Ein befriedigtes Bedürfnis erweckt ein neues. Der Drang zur Selbstverwirklichung ist in Don Giovanni, die Lust auf Transzendenz, sich aufzulösen – was heute durch die Drogen sehr aktuell ist, sich raus zu beamen aus dem normalen Leben, die Sehnsucht, dass es da noch mehr geben muss. Lustgewinn, Verführung, Hingabe und Tod sind weitere Themen, also die Fähigkeit, sich soweit auszuliefern, dass man die Grenze zum Tod überschreitet.
Du hast dir ja im Vorfeld einige andere Varianten des „Don Juan“-Mythos angeschaut. Was macht die von Mozart / da Ponte so besonders?
Die werten Giovanni nicht. Sie nehmen diesen archetypischen Freibeuter, nicht-verlogenen, nicht-scheinheiligen Menschen sehr ernst und zeigen Sympathien für diese Seite in uns Menschen.
Wogegen kämpft Giovanni? Wer sind seine Gegner? Die drei Frauen, die Männer, der Komtur, sprich die öffentliche Moral?
Der Gegenspieler ist schon der Komtur. Er verkörpert das Gesetz, die Beschneidung der menschlichen Möglichkeiten. Wir wissen doch alle, wie ungerecht diese „Gerechtigkeit“ oft ist. Dieser steinerne Gast, dieses Herz aus Stein, dies unverrückbare Kalte steht gegen dies überhitzte, heiße, menschliche Herz aus Fleisch und Blut von Don Giovanni.
Du zeigst sehr deutlich in der ersten Szene: Donna Anna weiß sehr wohl, mit wem sie’s am Anfang im Bett zu tun hatte, auch wenn sie sich später da rauslügen will. Was für ein Charakter ist die Donna Anna?
Sie ist eine Seite der Frau: diese Megäre, die Frau, die kämpft und der jedes Mittel recht ist. Sie versteht ihre eigene Natur nicht, und erträgt sie auch nicht. Sie ist eher ein Vernunftmensch, gezeichnet von ihrem Vater, dem Komtur. Sie beschneidet und bestraft sich innerlich, straft sich selbst Lügen und fühlt sich schuldig. Aus dem Schuldgefühl heraus verwandelt sie die Liebe in Hass, strebt in die Tat, in den „Krieg“.
Als Racheengel taucht ja immer wieder auch Donna Elvira auf. Sie ist die treibende Kraft, die dem Giovanni das Spiel vermasseln will. Trauert sie einer verlorenen Liebe nach? Leporello sagt ihr doch in der Registerarie sehr bilderreich, was sie von Giovanni zu halten hat.
Elvira ist die Umkehrung zu der Rücksichtslosigkeit und der ständig-die-Partner-wechselnden-Gier des Don Giovanni, und darin ist sie genauso stark: Sie ist die personifizierte Treue, sie wird ihm bis zum letzten Atemzug treu sein. Sie liebt ihn, trotz allem, was Giovanni tut. Diese Art Liebe, die über die Logik und Wertmaßstäbe hinausgeht, ist etwas sehr Frauenhaftes. Deshalb ist die Elvira für mich die eigentliche Partnerin von Giovanni. Nur ist er nicht in der Lage, diese Partnerschaft zu leben. Weil er in seiner Kindheit als Page wie der Cherubino im „Figaro“ von Hand zu Hand gegangen und wie ein Schmetterling von einem Schoß in den nächsten geflattert ist, hat er nie gelernt zu lieben. Und dennoch glaube ich, dass Mozart ihm diese Liebes-Fähigkeit in der Musik komponiert hat, aber auch, dass er unfähig ist, das wirklich zu leben.
Mit dem Fest auf dem Schloss will Giovanni sein Register um mindestens zehn Namen erweitern. Er hat’s aber schon ziemlich schwer mit der einen, Zerlina. Kriegt er sie oder kriegt er sie nicht? Es ist ja eigentlich Zerlinas Hochzeitstag, und der gehörnte Bräutigam Masetto macht das ganze Dorf gegen den Grafen rebellisch.
Wir sind in der Arbeit zu dem Schluss gekommen, dass er immer kurz vorher gestört wird. Die Zerlina tendiert zu Giovanni und geht auch mit ihm aufs Schloss und ins Bett. Aber beim ersten Mal kommt die Elvira dazwischen und beim zweiten Mal, im Finale I beim Fest stört Masetto. Im Finale II wird ja diese Oper „Una cosa rara“ von Mozarts Zeitgenossen Martín y Soler zitiert. In dieser 1786 in Wien uraufgeführten Oper wird erzählt, dass ein Mädchen vom Lande dem Verführer nicht erliegt. Die Zerlina steht für die Natur, die Zukunft, das zurück zur Natur, die neue selbstbewusste Haltung der Frauen. Deshalb nehmen wir an, dass Zerlina von Giovanni nicht besessen worden ist. Und insofern ist sie auch nicht so gezeichnet wie die beiden anderen Frauen, die es schwer haben werden, in eine andere Bindung zu gehen. Bei Donna Elvira ist es ganz klar; bei Donna Anna ist es ziemlich klar, dass es mit dem Ottavio nichts wird.
Beide gehörnten Männer sehen nicht gut aus: Ottavio ist ein etwas zimperliches Weichei. Masetto etwas grob gestrickt. Muss man Mitleid mit ihnen haben? Oder ist Giovanni einfach der bessere Liebhaber?
Giovanni ist ein Ausnahmetyp und die beiden anderen sind „Otto-Normal“-Typen, sowohl der Masetto als Bauer als auch der Ottavio als Adliger. Der Ottavio tendiert im Stück aber immer mehr dazu, sich zu radikalisieren. Im zweiten Akt hat er eine Arie, die schon in Richtung Komtur geht, also die neue Ordnung, die Strenge, das Beschneiden von Natur anzeigt. Und Masetto ist ja bereit, den Giovanni kurz und klein zu kloppen, ihm nicht nur einen Denkzettel zu verpassen, sondern ihn auch zu töten. Da wird die Radikalisierung beider Männer deutlich. Die Männer agieren unabhängig voneinander, sind Einzelkämpfer, während die Frauen miteinander arbeiten, solidarisch sind.
Muss man auch Mitleid haben mit Leporello? Giovanni behandelt ihn wie den letzten Dreck, lässt ihn verprügeln, um von sich abzulenken, und gönnt ihm nicht mal seine verflossene Elvira. Leporello will dauernd auch mal Herr sein – und hat am Ende nichts anderes zu tun, als sich einen neuen Herrn zu suchen.
Leporello lebt ja in einer ganz besonderen Symbiose mit Don Giovanni. Ein Herr braucht einen Diener, und ein Diener braucht einen Herrn. So ist es auch mit den Leuten im Staatsapparat. Auch dort brauchen die Vorgesetzten ihre Untergebenen. Es ist diese psychische Konstellation: indem man einem anderen dient, verteufelt man ihn zugleich, ohne in der Lage zu sein, seine eigene Firma aufzubauen. Lieber schimpft man über seinen Geld-/Arbeitgeber, über den Staat und alles, statt selbst verantwortlich zu sein, sich zu befreien, selbständig zu agieren. Diese Passivität ist weit verbreitet, alle Diktaturen arbeiten damit, dass sie die Menschen zu Herdenvieh machen.
Der Komtur ist für die Regie das Schwierigste der Oper. Bei dir ist er nicht einfach der Tote vom Dienst. Er ist das Prinzip bürgerliche Ordnung, er lockt Giovanni in das geschichtliche Ende, das seiner Spezies beschieden ist. Er ist die Mauer, an der Giovannis Schussfahrt zerschellt.
Er weckt Giovannis Sehnsucht, sich raus zu katapultieren aus dem Kreislauf der unbefriedigten Lust. Er weckt seine Sehnsucht nach dem Tod, der Auflösung aller Ordnung, dem Chaos. Und damit wird auch die ganze Spannweite dieses Problems beschrieben, das unlösbar scheint in uns: diese Verführbarkeit, der Drang, die Gier, die Hatz und alles was uns treibt, wo wir innehalten und uns fragen, warum wir das tun.
Das „lieto fine“, das Wiederaufnehmen einer barocken Konvention, dass das Drama glimpflich-heiter enden soll, heißt hier: Leporello will wie gesagt sich einen neuen Herrn suchen. Elvira will ins Kloster. Anna will den Ottavio vorerst nicht heiraten – er soll noch mindestens ein Jahr auf sie warten (wie später im „Freischütz“ dann der Max auf seine Agathe warten soll). Die Zerlina ist auch nur zum Schein erleichtert, dass sie jetzt nicht mehr zwischen Giovanni und ihrem Masetto wählen muss. Wer lacht sich hier eigentlich einen über wen?
Am Ende ist es mit der chromatisch fallenden Linie so komponiert, dass die Figuren sich vereinzeln. Auch wenn Zerlina sagt, wir gehen jetzt nachhause, und Leporello sagt, ich gehe jetzt in die Kneipe, sind diese Figuren am Ende vereinsamt. Giovanni als das Prinzip, das in ihnen allen steckt, bleibt als transzendentes Moment. Das Nachspiel nach dem Finale II ist so flirrend komponiert, dass es gar nichts mehr mit den Figuren zu tun hat, die jetzt ihren Weg weiter gehen müssen, mehr oder weniger lustbetont. Es ist ein Aufblitzen, ein Lachen im Universum. Ein Lächeln bleibt übrig zum Schluss.
Das Stück von Mozart und da Ponte wurde uraufgeführt 1787, knapp zwei Jahre vor der Französischen Revolution, ist dort eigentlich auch angesiedelt. Aber es ist gegenwärtig wie kaum eine andere Oper der Literatur. Was macht es so präsent: die Musik, die Dramaturgie, oder doch auch die Thematik Mann-Frau, Männerfantasie, freie Liebe?
Und die Verführung, von der heute auch die Industrie lebt. Verführung ist die wahre Macht in unserer Welt. Das ist ein Thema, das uns genauso betrifft wie die Leute damals. Die Auseinandersetzung mit Liebe und Tod und die Verquickung im Leben mit verschiedenen Leuten, die mit einem agieren in einem Spielfeld – das ist ja eine Oper, die fast in jedem Takt genau das menschliche Wesen und die Konflikte, die das mit sich bringt, markiert.
Es ist nach „Titus“, „Zauberflöte“, „Idomeneo“, „Figaro“ deine fünfte Mozart-Oper. Was ist für dich die liebste Mozart-Oper jetzt?
Kann ich nicht sagen. In finde die Arbeit, wie Mozart Gedanken in Musik umsetzt, wie in jedem Takt Geist, Ironie, Witz und Herzblut einfließen lässt, das ist so was Besonderes. Es öffnet einem so reiche Gedanken- und Gefühlswelten, dass man fast nicht genug kriegen kann. Je tiefer man eindringt, erschließen sich einem die Zusammenhänge immer mehr. Das ist eine große Bereicherung.